Herr Katō spielt Familie

Da kommt man tagein tagaus von der Arbeit zurück ins traute Heim. Einst stand die Frau am Fenster und winkte einem zu. Hier ist man zuhause, hier ist man daheim. Die Jahre verfliegen, Routine stellt sich, das Pflichtbewusstsein lässt einem kaum Raum zur Selbstentfaltung. Und dann der große Schnitt. Nix mehr mit Arbeit, nix mehr mit Winken, nix mehr mit Daheim. Die Frau scheucht einen aus dem Haus. Rente!

Herr Katō kennt das Gefühl. Lange Zeit hat er die ehemaligen Kollegen beneidet. Sie konnten ihre Rente genießen. Jetzt ist er an der Reihe. Doch der Rentneralltag ist trist. Seine Frau tanzt jetzt wieder. Nicht sinnbildlich, sondern in einem Kurs. Und wenn beide zuhause sind, steht er ihr im Weg. Sie schickt ihn raus. Eine Runde drehen, soll er. Was so viel heißt, dreh gleich mehrere … und das ganz langsam.

Bei einer dieser Runden lernt Herr Katō eine junge Frau kennen. Sie ist offen, fast schon ein wenig zu offen. Redet einfach drauf los. Und sieht in ihm einen potentiellen neuen Kollegen. Die Frage „Was schon wieder arbeiten? – Das habe ich doch gerade hinter mich gebracht!“ stellt sich nicht. Denn Herr Katō soll in die Agentur „happy family“ eintreten. Ersatz soll er sein. Ersatz-Bruder, Ersatz-Chef, Ersatz-Opa. Das ist das Geschäftsmodell. Lückenbüßer finden und den Kunden zur Verfügung stellen. Sie brauchen bei einer Feier die ultimative Lobhudelei? „Happy family“ hat den passenden Opa, Chef oder Bruder. Und Herr Katō ist der geborene Ersatz. Ob er nur den stummen Gatten spielen soll, weil der echte eine echte Quasselstrippe ist oder den fürsorglichen, hochgradig erstaunten Opa geben soll – Herr Katō ist die Idealbesetzung.

In seinem eigenen Leben tut sich aber auch etwas. Seine Schwiegertochter ist endlich schwanger geworden. Schon seit einiger Zeit versuchen sie und ihr Mann Nachwuchs zu zeugen. Und auch Herr Katō schafft es endlich einmal Reisevorbereitungen für Paris zu treffen. So viel zu tun und so wenig Zeit…

Milena Michiko Flašar beschreibt in ihrer Geschichte einen Mann, für den Aufgeben nicht in die Tüte kommt. Es läuft nicht alles so wie er es sich vielleicht einmal ausgemalt haben könnte. Doch es läuft. Sofort nach der Rente geht er zum Arzt und stellt mit Erschrecken fest, dass er kerngesund ist. Die Schockwirkung scheint ihn wegen der Überraschung stark zu treffen, umhauen kann sie ihn nicht. Neuer Weg, neues Ziel. Und pflichtbewusst wie eh und je nimmt er den steinigen Weg in Angriff. Die junge Frau, die ihm so schonungslos offen begegnet, ist die Reiseführerin in eine Zukunft, eine Kraftgeberin, die er nie zu treffen gehofft hätte.

Leise Töne von Melancholie geben dieser Geschichte den richtigen Drive. Mit kleinen „Hau-Rückchen“ stubst sie Herrn Katō wieder in die Spur des Lebens zurück. Mit jeder Seite gewinnt Herr Katō sein Lächeln zurück, für das ihm jeder Leser dankbar sein wird.