Einsame Schwestern

Lina und Diana sind unzertrennlich. Nicht im übertragenen Sinne, im wortwörtlichen Sinne. Das Zwillingspaar ist ein siamesisches Zwillingspaar. Lina ist die feinfühlige, die Träumerin, die Poetin. Diana ist pragmatisch, störrisch und erwartet vom Leben nicht viel.

In einer Zeit, in der Georgien sich gerade beginnt zu emanzipieren, Menschen ihren eigenen Weg suchen und beschreiten können, ist kein Platz für Menschen wie Lina und Diana. Sie wachsen bei der Großmutter auf. Abgeschirmt von allem, was man Welt nennt. Bildung kommt von der sich rührend kümmernden Alten, deren Tage allerdings schon bald gezählt sein werden. Linas und Dianas Welt wird gestaltet von Magazinen, Telenovelas und gelegentlichen Träumereien. Abwechslung bietet lediglich Zaza, der ab und zu vorbeikommt und Einkäufe abliefert.

Mutter und Vater kennen die beiden nicht. Nur ein Bild der Mutter verbindet Lina und Diana mit der Vergangenheit. Als die Großmutter stirbt, ist das geregelte, ereignisarme Leben vorüber. Das Licht des Lebens, das ihnen bisher ins Gesicht scheint, wird vom grellen Scheinwerferlicht des Zirkus abgelöst. Wie in einer Freakshow sind Lina und Diana gezwungen für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen. Der Zirkus bietet ihnen die Möglichkeit. Doch der Zirkus ist nicht die große weite Welt, es ist nur eine andere Art von Gefängnis. Sie müssen funktionieren. Jede auf ihre eigene Art. Zusammen, gezwungenermaßen. In den Tagebuchenträgen, die beide unabhängig voneinander schreiben, treten die Unterschiede deutlich zu Tage.

Das muss auch Rostom eines Tages sich eingestehen. Der Hochschullehrer führt ebenso ein karges leben wie Lina und Diana. Und … er ist ihr Vater. Das wird er allerdings erst erfahren als die beiden tot sind. Die Behörden fordern von ihm eine Summe ein, die er nie bezahlen kann. Der Rechnungsinhalt bezieht sich auf die Aufbewahrung und Entsorgung der Leichname von Lina und Diana. Zuerst weigert sich Rostom die Briefe ernst zu nehmen. Doch je häufiger die Briefe werden, desto mehr verfestigt sich das Bild vom Vater ohne Kinder. Sein Leben gerät ins Stocken…

Ekaterine Togonidze bringt das Thema Behinderung als Erste aufs Tableau der georgischen Literatur. Einfühlsam, ohne dabei weihleidig zu werden und ohne jeden Pathos bricht sie in eine Welt ein, die die Bewohner gern verschlossen halten möchten. Scham ist der Schutzschild, der sie vor Angriffen bewahrt. Schicht für Schicht trägt die Autorin das Elend der Vereinsamung ab und zeichnet ein Bild von einer Welt, die nur Nuancen von Grau als Farbpalette zu bieten hat. Lina und Diana sind zwei Seelen in einem einzigen Körper. Dass sie doch so unterschiedliche Entwicklungen nehmen konnten, bleibt ein Rätsel. Doch ihre Vielfalt sowie die Schlichtheit ihrer Tagebuchsprache machen „Einsame Schwestern“ zu mehr als einem beeindruckenden Roman. Eine Offenbarung!