Expeditionen ins dunkelste Wien

Wien von unten! Eine Rundreise durch das Wien, das keiner kennt. Und die, die es kennen, wollen es am liebsten vergessen. Max Winter galt als Pionier der Sozialreportage. Doch seine Recherchen führte er nicht mit gespitztem Bleistift und Notizblock durch. Er warf sich in Schale, um unter denen, die das dunkle Wien kannten und prägten, nicht aufzufallen.

Tarnung nennt man das. Und so steigt er in die Kanäle der Stadt hinab, nicht um „mal was anderes zu sehen“ (und dann daraus eine Reisereportage zu machen), sondern um denen, deren Tagesgeschäft dieser (Hin-)Abgang ist, über die Schulter zu schauen, mit ihnen auf Nahrungsjagd zu gehen, ihrem Broterwerb nahe zu sein.

Wien ist oben, unterm Himmel, eine Stadt voller Impressionen. Herrschaftliche Häuser und Paläste, elegante Boulevards, gediegene Kaffeehauskultur. Doch wo Licht, da auch Schatten. Die Reportagenauswahl in diesem Buch, Max Winter hat weit über tausend in seiner Karriere geschrieben, ist ein Querschnitt seiner Arbeit. Und zudem eine Sozialkritik an den Zuständen ganz unten. Was Günter Walraff für das Nachkriegsdeutschland ist, war Max Winter für die österreichische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Für Max Winter waren Reportagen nicht nur Abbildungen der Wirklichkeit. Die kann man auch am Schreibtisch kreieren. Er ging voran, hinab, meist in Verkleidung. Die Ursachen des Lebens am unteren, äußeren Rand mussten erforscht, interpretiert und veröffentlicht werden. Als Chefredakteur einer Arbeiterzeitung sah er es als seine Pflicht an, denen eine Stimme zu geben, deren Hilferufe im Ansatz erstickt wurden.

Aus heutiger Sicht lesen sich die einzelnen Schicksale wie gerade erst geschrieben, obwohl sie ein Jahrhundert, zumindest aber fast so alt sind. Die Vehemenz der Worte, die unverstellte Sprache, der Wiener Dialekt, die schonungslose Offenheit, die unverblümte Wahrheit schockt den Leser. Von Seite zu Seite wünscht man sich die Helden in eine bessere Zeit versetzt. Man wünscht ihnen ein happy end. Doch alles ist echt. Nichts wurde hinzugedichtet. Das Licht am Ende des Tunnels ist nicht mehr als die Reflektion des Sonnenlichts durch die Öffnungen der Kanaldeckel.

Max Winter starb 1937 verarmt, verlassen und gekränkt in Amerika. Er floh vor den drohenden Konsequenzen, die ihm seine Texte bescheren würden. Zuvor war er Abgeordneter in Wien, sogar Vizebürgermeister.

Kurz nach dem Krieg wurde ein Platz nach ihm benannt, im zweiten Bezirk, Leopoldstadt. Gleich neben einem Park, der seinen Namen trägt. Eine Volksschule ist in unmittelbarer Nähe sowie Hotels. Eine Gegend, die Max Winter gefallen hätte.