Vor dem Sturm

Es ist nicht viel, was Esch, Skeetah, Randall, Junior und ihr Dad ihr eigen nennen können. Eine heruntergekommene Hütte an einer Lichtung im Mississippi-Delta. Randall, der Älteste will Basketball-Profi werden. Die Anlagen dazu scheint er zu haben. Skeet, der Zweitgeborene, ist völlig vernarrt in seine Pitbullhündin China. Die hat gerade geworfen. Der eine oderandere Dollar dürfte dabei wohl herausspringen. Junior ist der Sonnenschein, sieben Jahre, das Nesthäkchen. Er hat viel Blödsinn im Kopf und von einer umwerfenden Ehrlichkeit.

Esch ist die einzige Tochter. Ihre Mutter überlebte die Geburt Juniors nicht. Dad ist keine große Hilfe mehr. Ihm geht’s nicht gut und der Alkohol setzt ihm immer mehr zu. Gerade jetzt könnte Esch, die diese Geschichte erzählt, jemanden brauchen, dem sie sich anvertrauen kann. Denn sie ist mit ihren fünfzehn Jahren eigentlich zu jung für eine Schwangerschaft. Eigentlich. Denn Mannys Anziehungskraft ist stärker als jede Vernunft.

Die Tage plätschern so dahin. Die Geburt von Chinas Welpen bringt ein bisschen Abwechslung in den Alltag in der sengenden Hitze des Südens. Skeetah träumt schon vom großen Wurf mit dem großen Wurf Chinas, doch es soll anders kommen. Auch Randalls Karriere als Ballartist in den großen Arenen ist vorbei, bevor sie richtig anfangen konnte.

Im Radio vernehmen die Fünf die unheilvolle Nachricht, dass ein Sturm im Anzug ist. Ein Hurricane, der sich bis zur Stufe Fünf hochschrauben wird. Höher geht es nicht, 250 Kilometer pro Stunde lassen dann auch keinen Stein mehr auf dem anderen liegen. Die Vorbereitungen, sofern man sich überhaupt auf so eine Katastrophe vorbereiten kann, sind übersichtlich. Fliehen ist keine Option. Wohin denn? Die Mittel sind nicht nur begrenzt, sie sind erschöpft. Katrina, mit diesem Namen wird der Sturm in die Geschichtsbücher eingehen, trifft mit voller Wucht aufs Festland. Der kleine Bach, der unweit der Hütte einst ruhig vor sich hin dümpelte peitscht mit allem, was er in sich hat erst gegen die Wände, dann breitet er sich im Haus aus.

Jesmyn Ward gelingt es mit zarten Worten das harte Leben derer, die von der Armutsgrenze nur träumen können, in ein farbenfrohes Feld der Hoffnung zu verwandeln. „Vor dem Sturm“ ist ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman, der ihr in den USA den National Book Award einbrachte und zum Bestseller wurde. Sie schockiert nicht mit brachialen Armutsszenarien, sie ringt dem kargen Leben ein großes Stück Poesie ab. Ihre Charaktere sind echt, nicht überzogen und der Handlung angepasst – sie sind die Handlungstragenden im wahrsten Wortsinne.