Cider mit Rosie

Literarische Kindheitserinnerungen sind überwiegend sinnlich und intensiv geschrieben. Laurie Lee sticht in der langen Reihe der großen Dichter und Schreiber durch seine präzisen Erinnerungen noch einmal hervor.

Der erste Weltkrieg liegt in den letzten Zügen, da muss Laurie als Vierjähriger zum ersten Mal sein angestammtes Zuhause verlassen. Als die Kutsche verlässt, beginnt ein neues Leben. Sein Leben. Mehr als eine Handvoll Geschwister sind da. Sie schieben ihm Früchte in den Mund, liebevoll und ohne Zwang. So zuckersüß die Früchte, so verzückt liest man von dieser zuckersüßen Erinnerung. Der Blick scheint unendlich weit schweifen zu können. Auch die Menschen um ihn herum sind greifbar, haben Ecken und Kanten. Mit besonderer Verve beschreibt er beispielsweise den lebenslangen Zwist zwischen zwei durchaus als alt zu bezeichnenden Damen, die keine Gelegenheit auslassen der Anderen verbal eines überzuziehen. Selbst im Angesicht des Todes befeuern sie ihre Grabenkämpfe mit Leidenschaft.

Es ist ein wahres Vergnügen dem Kindertreiben vor einem ganzen Jahrhundert Zeile für Zeile zu folgen. Die nuancenreiche Sprache Laurie Lees bricht in der Neuübersetzung von Pociao und Walter Hartmann zu neuen Ufern auf. Das Gras ist auf einmal nicht mehr nur grün, sondern auch scharfkantig. Die Sonne brennt nicht, sie ist Lebensanbahner erster Klasse.

Mit jeder Seite mehr in diesem Buch kuschelt man sich in seinen Lesestuhl und liest offenen Mundes von der Schönheit vergangener Tage und dankt Laurie Lee im Nachhinein für sein enormes Erinnerungsvermögen. Mit einfachen Mitteln und der unendlichen Macht der Phantasie durchlebten der kleine Laurie und die nicht kleine Bande von Geschwistern eine nicht immer sorgenfreie Kindheit, die in ihren Augen jedoch genau das war. Unbeschwert, liebevoll, frei.

Dreizehn Aquarelle von Laura Stoddart verleihen dem ohnehin romantischen Buch den passenden Rahmen. Zurückhaltend, doch keineswegs unauffällig leiten sie eindrucksvoll jedes neue Kapitel ein. Laurie Lee scheint sich an den Abbildungen zu orientieren. Ohne viel Krakeelen und sinnfreie Lautmalerei ergießen sich Aquarelle und Zeilen über den Leser. Die verlaufen nicht im Sande, sondern setzen sich tief fest im Gedächtnis des Leser.. „Cider mit Rosie“ liest man sicherlich mehr als einmal im Leben.

Es ist der romantische Gegenentwurf zur digitalgesteuerten Kindheit der Gegenwart! Laurie Lee beschreibt seine ersten Kindheitserinnerungen mit einer derartigen Wucht, dass man das WLAN ausschalten möchte und sich ins frisch gemähte Gras setzen möchte. Einatmen, Gerüche aufnehmen, das Farbenspiel der Natur beobachten genauso wie die Menschen um einen herum. Und zwar analog, ohne Bildbearbeitung und Farbfilter.