Der Blutchor

Dieuswalwe Azémar hat Urlaub. Es lebe die Kurzgeschichte! Und Gary Victor ist ihr König! „Der Blutchor“ ist mehr als eine Fingerübung, um Großes folgen zu lassen. Die neun Kurzgeschichten in diesem Band – man kommt ausnahmsweise nicht umhin auf den Preis zu verweisen: Weniger als ein Euro pro story, die eindeutig mehr wert sind – fesseln alle Sinne des Lesers. Naja, vielleicht bis auf den Geruchssinn.

Mitten im Haïti Duvalliers, wobei es fast schon egal ist, welcher nun gerade an der Macht ist, ob nun Papa oder Baby Doc (oder ist es doch ein anderer Präsident, der das Volk unter seiner Knute quält?), wächst einem Günstling des Präsidenten ein Schwanz. Und zwar dort, wo man ihn nicht vermutet oder eben gerade da. E nachdem wie ernsthaft man gerade drauf ist. Ein Skandal? Nein! Eine Schmach? Zumindest für Corneille Soisson. Der Name an sich ist schon einen Literaturpreis wert: Die Krähe sei sein. Und dieser besagte Soisson macht sich berechtigte Hoffnungen auf einen Ministerposten. Der Präsident ist dem eifrigen Wahlzettelfälscher zum Dank verpflichtet. Wäre da nicht diese Sache mit dem verflixten Schwanz! In Bohio, einer volkstümlichen Bezeichnung Haïtis, ist ein Schwanz nicht nur ein Schwanz, sondern ein Fluch, den nur ein bòkò, ein schwarzer Voodoopriester wieder lösen kann. Doch Corneille ist zu feige und springt in den sicher geglaubten Tod. Blöd nur, dass unter dem Fenster ein Müllwagen wartet und seine geheime Fracht auf der Deponie ablädt. Die Geschichte vom schwanzangehängten Günstling macht die Runde. Als das Ungetüm – so muss Corneille mittlerweile aussehen – eines Tages von Arbeitern entdeckt wird, scheint die Lage zu eskalieren…

In einer anderen Geschichte dringt Gary Victor ganz tief in die Seele eines Menschen ein. Frau und Kind sind weg. Bald auch sein Leben. Doch sein Tagebuch offeriert ein dunkles Geheimnis. Ameisen treiben den Junkie in den Wahnsinn. Nicht sein Schöpfer, sondern sein Programmierer scheint etwas Besonderes mit ihm vorzuhaben.

Und wenn Kokosnüsse wirklich den Weg vorzeichnen, sollte man Frauen mit Macheten aus dem Weg gehen. Dieser Ansicht ist der Autor der ersten Geschichte in diesem Buch.

Es bedarf einer ungeheuren Phantasie solche Geschichten zu erfinden und wunderbar vertraute Worte kleiden zu können. Wie ein Magier webt Gary Victor seltsame Begebenheiten in ein Netz aus feinster Gefühlsseide. Die Akteure halten die Webfäden teils mit zittrigen Händen fest, so dass dem Leser nichts anderes übrig bleibt als offenen Mundes Seite für Seite zu verschlingen. Angst sich zu verschlucken muss keiner haben. Den Heimlichgriff beherrscht der Autor wie kein Zweiter. Blutüberströmt ohne vulgär zu sein, erregt ohne die Grenzen des guten Geschmacks auch nur anzukratzen und mystisch und schonungslos geradlinig zugleich sind die Geschichten in „Blutchor“.

Was sich auf dem ersten Blick wie die Biographie der Background-Sänger von Madonnas „Like A  Prayer“ anhört (schwarzer Jesus, der Blut weinnt – einer der inszenierten Skandale der 90er Jahre) , entpuppt sich schnell kurzweilige Meisterstücke der Stimme Haïtis, der von Gary Victor. Man hört die Stimmen, geht auf die Knie, schließt die Augen und seufzt wie ein Engel:  Fluchen sei an dieser Stelle bitte erlaubt: Verdammt, schon wieder ein Buch, das zu schnell ein Ende findet!