Die Stille von Chagos

Seesucht. Sehsucht. Sehnsucht! Eine kleine Inselgruppe im Indischen Ozean, das Chagos-Archipel könnte man mit diesen drei Worten umschreiben. Doch man wäre nicht einmal annähernd an der Wahrheit dran. Fünfundfünfzig Inseln, die einmal zu Mauritius gehörten. Nachdem Mauritius unabhängig wurde, 1968, behielten die britischen Kolonialherren die Inselgruppe, um sie für fünfzig Jahre an die USA zu verpachten. Denn von hier aus ist man mit dem B-52-Bombern schneller im Nahen Osten. Keine Fiktion – knallharte Realität. Und was macht man mit den Menschen, den Chagossianern? Umsiedeln. Ins Paradies, nach Mauritius.

Von wegen Paradies. Den Chagossianern ist es verboten die eigene Heimat zu besuchen. Und auf Mauritius die eigene Sprache zu sprechen, die Kultur zu pflegen ist – wie fast überall auf der Welt – sehr schwierig bis unmöglich. Auch das das ist real.

Shenaz Patel wurde auf Mauritius geboren und bettet diese belegbaren Fakten in eine gefühlvolle, leise Geschichte. Da ist Charlesia. Tag für Tag steht sie am Ufer ihrer aufgezwungenen Fremde, schaut süchtig auch die See und ist süchtig danach zu sehen, ob ihre Sehnsucht nach Chagos eines Tages doch gestillt werden kann. Das Paradies ist für sie nur eine leere Worthülse. Kein Kalous, der Saft der Kokosnuss, den sie so gern trank, um Abkühlung herbeizutrinken. Die Männer mochten ihn lieber gegoren, dann war er deren Rauschmittel. Diego Garcia, so der Name ihrer Heimatinsel ist unendlich weit weg und wird es wahrscheinlich auch immer bleiben. Doch träumen und ein bisschen kämpfen kann man ihr nicht verbieten. Ihr Mann war krank und nur auf Mauritius konnte ihm geholfen werden. Der Rückweg war ab diesem Zeitpunkt für sie tabu. Antworten auf ihr Warum bekam sie nie.

Raymonde wurde nach Mauritius vertrieben. Unterwegs kam ihr Sohn Désiré zur Welt. Auch er hat Sehnsucht nach der Heimat, die er nie kennengelernt hat. Nun lebt er auf Mauritius und ist immer noch der Fremde.

Tony, der Hafenarbeiter, kennt die Hintergründe der Fremden, die Tag für Tag am Ufer steht, nicht. Jeden Tag kommt sie hier her und starrt auf die weite See.

Drei Geschichten, die exemplarisch für das Desaster von Okkupation und Willkür im Indischen Ozean stehen. „Die Stille von Chagos“ rührt an und auf. Die Hingabe, mit der die Autorin vom Schicksal dreier Menschen erzählt, die sich fremd und doch so eng verbunden sind, berührt. Die Gründe für ihr Schicksal sind perfide, widerwärtig und durch nichts zu entschuldigen. Großbritannien hat mittlerweile den „Pachtvertrag“ um weitere zwanzig Jahre verlängert. Dann sind es siebzig Jahre, die vergangen sein werden, bis Chagos vielleicht doch wieder einmal von Chagossianern bewohnt werden kann. Bis dahin wird aber eine ganze Generation die eigene Wurzeln nie kennengelernt haben…