Unsere Seelen bei Nacht

In dem Alter! Die sollten sich schämen! Ob die noch …  Du weißt schon! Sich das Maul über andere zerfetzen, wird zum Volkssport in Holt, Colorado. Denn Louis und Addie verbringen immer öfter ihre Nächte miteinander. Und beide sind um die siebzig Jahre … alt!

Addie ist Witwe, Louis ist Witwer. Schon seit längerer Zeit. Holt, das Fernsehprogramm, das Leben an sich bietet nicht mehr viel Abwechslung. Routine und Pflichtbewusstsein bestimmen den Rhythmus. Addie fasst sich ein Herz und tritt mit einer ungewöhnlichen und doch sehr verständlichen Bitte an Louis heran. Sie habe sich überlegt, fragt sie verlegen, ob sie nicht, ab und zu, die Nächte miteinander verbringen könnten. Das muss Louis erst mal sacken lassen. In seinem Alter?!

Addie nimmt ihm gleich den Wind aus den Segeln, zeitig genug, bevor er sonst was denken könnte. Einfach nur die Nacht teilen. Das schwarze Kleid der Dunkelheit verstärke nur die Einsamkeit und beiden ist es wohl am liebsten ein bisschen Abwechslung ins triste Einerlei ihrer Tage zu bringen. Beide sind erfahren genug, um nicht zu weit zu gehen. Gesagt, getan. Der Schleier der Nacht umhüllt sie mit Erinnerungen aus ihrer beider Leben.

Und die Nachbarn? Na die haben endlich wieder was zu tratschen. Zwischen verständnislosem Kopfschütteln und Rätselraten „was da noch geht“, sind Addie und Louis unfreiwillig zum Gesprächsthema Nummer Eins geworden.

Doch das juckt die beiden nicht im Geringsten. Sie haben einander und sind füreinander da. Auch als Jamie, Addies Enkel sich plötzlich bei ihnen einquartiert bzw. einquartiert wird. Seine Eltern haben sich getrennt. Und der kleine Wurm wirbelt die neugewonnene Routine ein bisschen durcheinander.

Kent Haruf schreibt voller Empathie von zwei Menschen, die sich mögen, sich nicht unbedingt brauchen, aber vermissen würden, wenn es den anderen nicht mehr geben würde. Sie verschieben die anscheinenden Grenzen des Anstands und errichten ihren eigenen Staat im Staate. Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden – darum scheren sie sich nicht. Regeln sind dazu da, um angewendet zu werden, lautet ihre Devise. Weder die eigenen Kinder, noch die sich das Maul zerreißenden Nachbarn können ihrem Lebensentwurf entgegenstehen. Und auch der hat Aufs und Abs. Und von Stillstand will auch der nichts wissen.

„Unsere Seelen in der Nacht“ liest sich wie ein Märchen, das auf ein erwartetes Happy end zuläuft. Addie und Louis haben ihre Geheimnisse, doch das liegt lang zurück. Sie leben im Hier und Jetzt, das sie sich in der Vergangenheit errichteten. Ohne Scheu vor Abneigung entwickelt sich zwischen den beiden das, was man Liebe nennt. Ohne Zwischenrufe, ohne störende Nebengeräusche. Ohne Bedingungen, aber mit allen Konsequenzen. Ein großartiges kleines Buch, das in seiner Knappheit so vielfältig und lehrreich ist, dass man es immer wieder zur Hand nehmen will und wird.