Nataschas Winter

Nataschas Winter

Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion ist Russland immer noch das flächenmäßig größte Land der Erde. Unmöglich es in seiner ganzen Vielfalt in einem Urlaub kennenzulernen. Susanne Scholl war jahrelang ORF-Korrespondentin in Moskau, leitete dort das Studio. Mit ihren Kindern, Kartenleserin und Adlerauge, wie sie sie liebevoll und allessagend nennt, hat sie zahlreiche Ausflüge durch das Riesenreich unternommen. Sie kennt sich also aus, zumindest mehr als die meisten zwei Wochen Wolga-Sankt-Petersburg-Moskau-Besucher.

„Nataschas Winter“ ist das Ergebnis dieser Reisen. Dieses Buch als Reiseband zu bezeichnen, wäre nicht richtig. Es ist eine Tauchfahrt in die Seele des Großen Bruders von einst, der sich in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten so stark verändert hat, wie es sich die revolutionären Köpfe nie zu erahnen wagten.

Die architektonischen Leuchttürme der Städte dienen Susanne Scholl als Wegweiser, doch niemals an Zielpunkte, die „man gesehen haben muss“. Klar, sie lebte schließlich mehrere Jahre in Russland, sah Kreml, Basilius-Kathedrale und Tretjakow-Galerie wann immer sie wollte. Sie fühlte sich daheim in der Fremde, baute Freundschaften auf, auch wenn es zeitweise schwierig war.

Als Tourist haben Begegnungen, wie sei die Autorin hatte, Seltenheitswert. Niemand lädt einfach mal so einen Besucher auf seine Datscha ein. Susanne Scholl war neugierig, auch darauf wie Natascha, die Dame, die dem Buch ihren Namen gibt, ihre Wochenenden – auf typisch russische Weise – verbringt. Nun muss jeder Leser selbst mit seinen Vorurteilen ins Reine kommen, wenn er liest, wie die Verhältnisse an einem typischen Wochenende auf Nataschas Datscha sind. Voll ist es in der engen Hütte vor den Toren der Millionenmetropole Moskau. Und melancholisch. Aber auch heimelig.

Pawel ist der komplette Gegenentwurf. Er ist Autonarr. Aber auch darauf bedacht, seine Schätzchen zu pflegen bzw. sie vor Schaden zu bewahren. Als Taxifahrer, der die Korrespondentin vom Flughafen abholen soll, eine echte Nummer. Eine Lotterienummer. Kommt er oder kommt er nicht? Steht der Wagen vor dem Ausgang parat oder muss man erst endlos durch die Ödnis des Flughafens stapfen, um endlich die schweren Koffer ins Auto zu laden? Und wem gehört eigentlich die Karre?

Ohne Vorurteile beschreibt Susanne Scholl ihren Alltag im russischen Auf und Ab, im Wechselspiel der Jahreszeiten. Oft mit dabei: Ihre Kinder. Die hatten – mittlerweile ist Susanne Scholl nicht mehr im Studio Moskau tätig – die einzigartige Möglichkeit in jungen Jahren hautnah eine fremde und doch so nahe Kultur aus der ersten Reihe kennenzulernen. Sie konnten wann immer sie wollten ihren behüteten Kokon verlassen, um die das so genannte wahre Leben auf Moskaus Straßen kennenzulernen. Als Leser darf man nun ein wenig davon profitieren, dass Susanne Scholl ihre Erlebnisse in diesem einem breiten Publikum zugängig macht.