Schnee

Schnee

Ein Haiku ist eine besondere Gedichtform aus Japan, die in letzter Zeit auch immer mehr Anhänger (und auch Dichter) in Europa findet. Es besteht aus drei Versen und siebzehn Silben. Und diese Regeln sind wie in Stein gemeißelt. Da gibt es kein Vertun! Haikus sind also rational, weil sie eine unabdingbare mathematische Komponente haben und emotional, weil sie Gefühle ausdrücken. Was sind das also für Menschen, die Haikus schreiben?

Yuko ist so einer. Sein Vater ist Shinto-Priester. In seiner Familie waren alle männlichen Ahnen entweder Priester oder Krieger. Yuko schlägt ein bisschen aus der Art, er will Dichter werden. Eine brotlose Kunst, mehr ein Zeitvertreib, kein Beruf. Meint sein Vater.

Doch Yuko lässt sich nicht beirren. Vom Schnee fasziniert schreibt er in einem Sommer siebenundsiebzig Haikus. Ganz nüchtern betrachtet, sind das zweihunderteinunddreißig Verse und eintausenddreihundertundneun Silben. Würde Yuko das auch so sehen, hätte er auch Krieger werden können. Die Nüchternheit, die Reinheit des Schnees reicht ihm jedoch, um die schönsten Haikus zu schreiben. Sie sind so schön, dass sogar der kaiserliche Hof davon Wind bekommt. Yuko lehnt das Angebot ab an den Hof zu kommen und als Hofdichter seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Vielmehr wird er zu einem Meister geschickt. Denn so schön, so rein seine Haikus sind, so blass, durchsichtig und farbenfrei sind sie auch. Soseki ist blind, doch er sieht mit dem Herzen. Er ist der unumstrittene Meister der Haikus. Er nimmt Yuko bei sich auf. Lehrt ihm Farben mit geschlossenen Augen zu sehen. Doch Meister Soseki hat ein Geheimnis. Seine Frau starb vor Jahren bei einem Unfall. Sie war rein, weiß wie Schnee. Yukos ist fasziniert von der Frau, die er auf dem Weg zu Soseki schon einmal gesehen hat. Sie war Französin, blondes Haar, gletscherblaue Augen. Und sie war Seiltänzerin. Aus Lieb zu Soseki gab sie ihre Leidenschaft auf. Nur noch ein einziges Mal wollte sie zwischen zwei Gipfeln, hoch über dem Tal balancieren. Ein fataler Wunsch. Sie stürzte ab, ward nie mehr gesehen. Der Berg, der Schnee hatte sie in sich aufgenommen…

Maxencé Fermine gibt der Poesie einen Rahmen, der jeden, ob er nun Gedichte oder gar Haikus mag oder nicht, in seinen Bann zieht. Japans Kultur ist so fremd, dass viele von vornherein sich nur selten die Mühe machen sie kennenzulernen. Dieses elegante Büchlein – Form und Aufmachung bieten sich geradezu an es als Geschenk weiterzugeben – bringt die Kunst und die Leidenschaft für die spezielle Form der Versgestaltung auf den Punkt. Die Liebe zu Schnee, zu Worten, zur Poesie erreicht in diesem Buch ihren Höhepunkt. Wer’s nicht gelesen hat, wird Japan und Haikus nie verstehen!