Man möchte immer lachen und weinen in einem

Man möchte immer weinen und lachen in einem

Ein Tagebuch zu schreiben ist der erste Schritt den Alltag und die Träume in Worte zu fassen. Ein Deutscher nutzt ca. sechs- bis zwölftausend Worte, um sich zu artikulieren. Bei über fünf Millionen verfügbarer Begriffe keine überzeugende Leistung (bis hierhin wurden etwas über dreißig verwendet…). Wenn ein (aus-)gebildeter Philologe Tagebuch schreibt, kann man davon ausgehen, dass er eher an der Obergrenze agiert. Victor Klemperer – auch wenn man es nicht nachzählt – hatte sicherlich einen Wortschatz, der locker die Zwölftausend-Worte-Grenze überwindet.

Sechs- bis zwölftausend Worte sind genug, um die eigenen Gefühle festzuhalten. Bei historischen Ereignissen wie das der letzten gewalttätigen Revolution des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland 1918/19 erfordert das Ereignis allein Grenzen zu überschreiten. Victor Klemperer, der sprachgewaltige Sprachwissenschaftler und Humanist hatte die Möglichkeit seine Gedanken zur Zeitgeschichte zu veröffentlichen. Doch nicht alle Texte sind einem breiten Publikum zugängig gemacht worden. Oft konnten sie nicht veröffentlicht werden, da sie nicht rechtzeitig bis Redaktionsschluss vorlagen. So versauerten sie in Schubladen und der Zahn der Zeit ließ sie allmählich in Vergessenheit geraten. Bis jetzt!

Ab Dezember 1918 schrieb er einige Monate lang für Zeitungen über die Ereignisse in München, Stichwort Räterepublik. Die Ermordung Kurt Eisners, die Stammtischtiraden der Arbeiter und der „ganz normale Alltag“ werden erst durch die Sprachgewalt Klemperers für all die greifbar, die nicht direkt dabei waren.

Victor Klemperers Sympathie ist klar, das zeigt er deutlich. Dennoch vermeidet er es sich von einer der Seiten einnehmen zu lassen. Zwischen-den-Zeilen-lesen muss der Leser schon können. Schon nach wenigen Seiten ist man derart im Stoff, dass einem die teils zum ersten Mal veröffentlichten Texte wie ein Roman vorkommen. Nur mit dem Unterschied, dass hier ein Tagebuch gelesen wird. Alles ist so passiert. Victor Klemperer war zu dieser Zeit noch nicht der angesehene Philologe, sondern als Journalist vor Ort. Viele der in diesem Buch zusammengetragenen Texte schafften es – aus Zeitgründen – nicht in die Gazetten der Zeit, manche wurden im Nachgang erst Jahrzehnte später erstellt. Sie alle vermitteln dem Leser ein exaktes Abbild der Situation, in der sich das geschlagene Deutschland zu dieser Zeit befand: Zerstörung, Verstörung, Irreleitung, teil Anarchie, blinder Aktionismus, rohe Gewalt. Doch auch Hoffnungsschimmer, Lichtstahlen und Aufbruchstimmung. Chirurgisch seziert er die Ereignisse, die er selbst erlebt hat, gibt nichts auf Hörensagen.

Nach dem das vergangene Jahr vermeintlich im Zeichen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges stand, Zeitzeugen wie Sand am Meer ausgebuddelt wurden, ist das Revolutionstagebuch ein intellektueller Vorgeschmack auf das Jahr 1919. Aber einer, der Appetit macht auf Deutschstunde und Geschichtsunterricht. Am Ende des Buches wird der Titel klar: Wein oder lachen? Lachen, weil man nun ein klareres Bild hat. Weinen, weil das Buch schon ausgelesen ist.