Der Riss

Der Riss

Pablo Simó ist am Scheideweg angelangt – er weiß nur noch nicht gleich. Der Mittvierziger ist Architekt und gibt sich seinen Zeichnungen, die auch Träume sind, hin. Die Häuser, die er mehr oder weniger gedankenverloren „vor sich hinmalt“, werden eh nie gebaut. Damit hat er sich abgefunden. Marta Horvat, sein Gegenüber, reizt ihn schon seit einiger Zeit. Doch Autorin Claudia Piñeiro wäre nicht eine der gefeiertsten Autorinnen Südamerikas, würde sie ihrem Protagonisten nun ein schnöde Affäre andichten. Sicherlich übt die attraktive Kollegin eine ungemeine Anziehung auf Pablo aus, doch Laura, seine Frau und Francisca, sein Tochter, lassen das nicht zu. Sein Gewissen, sein Ehrgefühl sind stärker als der Sexualtrieb. Eine Midlife-Crisis kommt nicht in Frage!

Doch als eine junge Frau das Büro betritt und nach Nelson Jara fragt, kommt auch Pablo Simós Weltbild ins Wanken. Pablos Chef Mario Borla, Marta Horvat und auch Pablo Simó verneinen die unerhoffte Frage wider besseres Wissen.

Der Leser vermutet es, natürlich kennen die Drei Nelson Jara. Sie kennen bzw. kannten ihn sogar sehr gut. Denn er war es, der ihnen vor drei Jahren das Leben zur Hölle machen wollte. Schnell war eine nicht gerade „feine Lösung“ gefunden – sie ließen ihn verschwinden … in einer Baugrube … zugeschüttet mit Beton. Dass ihnen die Sache noch einmal um die Ohren fliegen könnte, ahnten sie. Dass der Tag dann doch (so schnell?) kommen würde, wollten sie sich nie ausrechnen. Nelson Jara wollte das Architekturbüro und Pablo Simó im speziellen dafür verantwortlich machen. Was die Drei damals noch nicht wussten: Jara war ein Betrüger.

Pablo lässt sich auf die junge Frau ein. Leonor – so ihr Name – gibt vor als Studienarbeit eine Fotoserie über Häuserfassaden in Buenos Aires machen zu wollen. Dafür braucht sie Pablos Hilfe. Pflichtbewusst und vielleicht auch mit einem Hauch von schlechtem Gewissen steht er ihr beiseite. Zusammen erkunden sie (zusammen mit dem Leser) die architektonischen Höhepunkte der Millionenmetropole am Atlantik. Am Ende lädt die bildhübsche 25jährige den sich dem Anlass entsprechend aufgebrezelten Pablo in ihre Wohnung ein. Der staunt nicht schlecht als er die Adresse sieht. Das ist das Haus, in dem Nelson Jara wohnte. Und es kommt noch besser. Leonor wohnt sogar in der Wohnung Jaras.

Claudia Piñeiros füllt seit Jahren die Bestsellerlisten Südamerikas. Mit „Der Riss“ gelingt ihr der Spagat zwischen spannender Kriminalgeschichte und Lebenskrisenbewältigung scheinbar spielend. Nicht die kriminelle Tat steht im Vordergrund – sie wird eher im Stile eines Colombo-Krimis (der Leser weiß, wer der Mörder ist) abgehandelt. Vielmehr ist sie an der Wandlung des biederen, versteckt unzufriedenen Architekten Pablo Simós interessiert. Nicht kopflos, eher mit Bedacht und Hingabe schlittert er in eine Affäre, die seinem Leben eine entscheidende Wendung geben wird. Kein Kommissar, der bohrende Fragen stellt. Keine misstrauische Ehefrau, die hinter ihrem Mann herschnüffelt. Die kleinen Wendungen passieren automatisch, der Leser wird Zeuge einer Metamorphose eines Bürohengstes, der sich in seinem Leben eingenistet hat hin zu einem die Herausforderung suchenden Mannes. „Der Riss“ hat allemal das Zeug für eine Fortsetzung und ist es wert verfilmt zu werden.

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