Archiv für den Monat: Juli 2016

Kronkels

Kronkels

Katzen sind wie Menschen. Sie sind mal nicht gut drauf, mal stromern sie herum ohne festes Ziel. Scheinbar! Als Katzeneltern hat man die gleichen Sorgen wie wenn man eigenen Nachwuchs aufs leben vorzubereiten hätte. Autor Simon Carmiggelt und seine Frau können Katzen nicht widerstehen. Und er, Simon, kann es einfach nicht lassen die schnurrigen Gesellen zu beobachten. Und, was für den Leser noch wichtiger ist: Alles aufzuschreiben! Selbst, wer keine Muschi, Pussy, Mieze oder wie auch immer man die Samtpfoten nun bezeichnen mag, sein eigen nennt, wird dieses Buch immer wieder gern zur Hand nehmen.

Soll man Tiere vermenschlichen? Nein! Doch wenn man sie beobachtet, also sie, die Tiere, kommt man unweigerlich auf den Trichter sie mit Menschen zu vergleichen. Hunger? Ab zum Futtertrog. Beim Menschen heißt der Kühlschrank. Ist man müde, legt man sich hin, streckt alles, was geht von sich und schlummert leise den Träumen entgegen. Was beim Menschen für keinerlei Aufsehen sorgt, ist bei Katzen immer ein Erlebnis. Glaubt man Simon Carmiggelt. Stress vor dem Theaterbesuch? Klar doch, immer wieder gern genommenes Thema. Doch bei Carmiggelt ist es nicht die Frau, die ewig im Bad braucht, noch einmal die Garderobe wechselt. Bei ihm sind es die Katzen. Da kann es schon mal zu Verzögerungen kommen, weil da draußen, vor dem Haus, noch ein Streuner „sein Unwesen treibt“, den man unbedingt aufnehmen muss. Und im Theater? Da sorgt man sich um die lieben Kleinen bzw. ums Haus. Katzen sind halt auch nur Menschen. Wie ihre Besitzer. Nur anders!

Und Hunde? Ebenso. Der Autor war kein Hundebesitzer, aber er mochte sie, beobachtete sie mit der gleichen Leidenschaft wie er seine Katzen mit den wachen Augen eines Neugierigen verfolgte. Und auf seinen Streifzügen durch Amsterdam, wo er bekannt war wie der sprichwörtliche „bunte Hund“, begegneten ihm einige besondere Exemplare: Störrische, Verschreckte, Liebevolle.

Allen Katzen und Hunden seiner Familie und seiner Stadt hat Simon Carmiggelt mit seinen Kolumnen ein Denkmal gesetzt. Und das tagtäglich. Die „Kronkels“ waren mehr als nur ein Spaltenfüller in einer Tageszeitung, manche Leser gingen so weit zu sagen, dass die Tageszeitung das Beiwerk der „Kronkels“ war. Die Geschichten sind nicht lang, doch stecken sie voller Überraschungen und sprudeln vor Wortwitz. Ein bisschen Tucholsky und ein bisschen Kästner. Garniert mit der Spritzigkeit und der Agilität eines wachen Verstandes – das sind die Kronkels von Simon Carmiggelt!

Schnee

Schnee

Ein Haiku ist eine besondere Gedichtform aus Japan, die in letzter Zeit auch immer mehr Anhänger (und auch Dichter) in Europa findet. Es besteht aus drei Versen und siebzehn Silben. Und diese Regeln sind wie in Stein gemeißelt. Da gibt es kein Vertun! Haikus sind also rational, weil sie eine unabdingbare mathematische Komponente haben und emotional, weil sie Gefühle ausdrücken. Was sind das also für Menschen, die Haikus schreiben?

Yuko ist so einer. Sein Vater ist Shinto-Priester. In seiner Familie waren alle männlichen Ahnen entweder Priester oder Krieger. Yuko schlägt ein bisschen aus der Art, er will Dichter werden. Eine brotlose Kunst, mehr ein Zeitvertreib, kein Beruf. Meint sein Vater.

Doch Yuko lässt sich nicht beirren. Vom Schnee fasziniert schreibt er in einem Sommer siebenundsiebzig Haikus. Ganz nüchtern betrachtet, sind das zweihunderteinunddreißig Verse und eintausenddreihundertundneun Silben. Würde Yuko das auch so sehen, hätte er auch Krieger werden können. Die Nüchternheit, die Reinheit des Schnees reicht ihm jedoch, um die schönsten Haikus zu schreiben. Sie sind so schön, dass sogar der kaiserliche Hof davon Wind bekommt. Yuko lehnt das Angebot ab an den Hof zu kommen und als Hofdichter seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Vielmehr wird er zu einem Meister geschickt. Denn so schön, so rein seine Haikus sind, so blass, durchsichtig und farbenfrei sind sie auch. Soseki ist blind, doch er sieht mit dem Herzen. Er ist der unumstrittene Meister der Haikus. Er nimmt Yuko bei sich auf. Lehrt ihm Farben mit geschlossenen Augen zu sehen. Doch Meister Soseki hat ein Geheimnis. Seine Frau starb vor Jahren bei einem Unfall. Sie war rein, weiß wie Schnee. Yukos ist fasziniert von der Frau, die er auf dem Weg zu Soseki schon einmal gesehen hat. Sie war Französin, blondes Haar, gletscherblaue Augen. Und sie war Seiltänzerin. Aus Lieb zu Soseki gab sie ihre Leidenschaft auf. Nur noch ein einziges Mal wollte sie zwischen zwei Gipfeln, hoch über dem Tal balancieren. Ein fataler Wunsch. Sie stürzte ab, ward nie mehr gesehen. Der Berg, der Schnee hatte sie in sich aufgenommen…

Maxencé Fermine gibt der Poesie einen Rahmen, der jeden, ob er nun Gedichte oder gar Haikus mag oder nicht, in seinen Bann zieht. Japans Kultur ist so fremd, dass viele von vornherein sich nur selten die Mühe machen sie kennenzulernen. Dieses elegante Büchlein – Form und Aufmachung bieten sich geradezu an es als Geschenk weiterzugeben – bringt die Kunst und die Leidenschaft für die spezielle Form der Versgestaltung auf den Punkt. Die Liebe zu Schnee, zu Worten, zur Poesie erreicht in diesem Buch ihren Höhepunkt. Wer’s nicht gelesen hat, wird Japan und Haikus nie verstehen!

Neun Nächte mit Violeta

Neun Nächte mit Violeta

Im Leben eines Autoren kommt irgendwann der Moment, in dem man die Hosen runterlassen muss. Der Moment, in dem er sich einem anderen Genre widmet. Für Leser eine spannende Sache: Reicht er weiterhin an die Qualität des bisher so geschätzten Werkes heran? Im Falle von Leonardo Paduras „Neun Nächte mit Violeta“ kann jedem Leser die Angst vor dem Horrorszenario Qualitätsverlust genommen werden. In diesem Buch sind dreizehn Kurzgeschichten zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Manche sind nur wenige Jahre alt, manche wurden vor einem Vierteljahrhundert geschrieben.

Die Einstiegsgeschichte handelt von einem Mann, einem Journalisten, der als Kubaner in Angola das Land gegen die südafrikanischen Aggressoren absichern soll. Er arbeitet mit der Feder in der Hand, nicht mit der Waffe, was ihn auf besondere Weise sympathisch macht. Er ist nicht ganz freiwillig hier. Und er steht unter Beobachtung, was er allerdings erst kurz vor seiner „Dienstzeit“ erfährt. Was ihn von Anderen abhebt, ist die Sehnsucht, sind die Träume, die er immer noch hat. In Madrid findet gerade eine Ausstellung mit Werken von Velázquez statt. Einmal die Bilder des berühmten Hofmalers sehen – das wäre ein Traum. Der auch gleich in Erfüllung gehen soll. Denn er darf über Madrid (mit kurzem, doch ausreichendem Aufenthalt) zurück in die Heimat. Doch welch Pech: Die Ausstellung ist während seines Zwischenstopps geschlossen! Soll ihm das Pech weiterhin anheften? Zwei Jahre war er weg aus Kuba. Blieb seine Frau ihm treu?

Das Schicksal ist eine launische Diva. Wo Pech, da auch Glück. Denn Frankie, Freund aus Kuba, mutiger Emigrant, läuft ihm über den Weg. Und nach und nach ist die verpasste Ausstellung kein Fluch mehr, sondern Segen. Denn Frankie, der die Freiheit vermeintlich fand, ist weniger frei als er selbst, der im straffen Korsett des nachrevolutionären Kubas eingezwängt ist.

Die namensgebende Geschichte „Neun Nächte mit Violeta“ wird von Träumen getragen. Genauer gesagt von einem Träumer. Ein junger Mann, gerade achtzehn, lernt die Versuchungen des „anderen Havannas“ kennen. Ein schummriger Nachtclub, ein Longdrink, verliebte Paare und … Violeta. Die Nachtclubsängerin, die man im Lexikon unter Verführung finden würde. Lasziv gestaltet sie ihr Programm. Es ist um ihn geschehen. Doch er ist zu jung, um zu verstehen, was mit ihm geschieht. Erst später erlebt er, was es heißt ein liebender und geliebter Mann zu sein. Beziehungsweise, was er dafür hält. Körperliche Anziehungskraft, wobei die Betonung auf „Kraft“ liegt, werden ihm die Konzentration rauben. Sie, Violeta soll es sein, die ihn seine Wurzeln vergessen lassen soll. Neun Nächte verbringt er mit ihr. Neun Nächte, jede anders als die vorangehende, verändern sein komplettes Leben. Denn, wenn auch Träume wahr werden können – das lernt er schmerzvoll – so heißt das nicht, dass alles, was bisher war, vergessen werden kann. Denn auch Träume haben einen Anfang und vor allem ein Ende. Und das kommt für ihn plötzlicher als ihm lieb ist.

Leonardo Padura ist mit seinen etwas über sechzig Lenzen noch nicht in der Verfassung seinen juvenilen Träumereien den Anstrich des lüsternen Alten zu geben. Die Geschichten in diesem Buch strotzen nur so vor Energie! Lustvoll, nachdenklich, gereift erscheinen die Helden seiner Geschichten. Fest im Sattel der eigenen Geschichte verwurzelt, werden sie aus der Muttererde gerissen, um andernorts neue Blüten zu treiben. Diese duften nicht immer lieblich und süß. Oft ist es ein bitterer Beigeschmack, der ihnen angediehen wird. Doch auch die Bitterkeit hat ihre Reize!

Ein wenig Glück

Ein wenig Glück

Ein gefährlicher Titel, ein gefährlicher Plot! Nur allzu leicht gerät dieses Buch in den Geruch einer Schnulze. Frau macht folgenschweren Fehler  – flieht – kommt zurück – hat die Chance dem Sohn alles zu erklären. Als deutsche Fernsehproduktion mit Veronika Ferres in der Hauptrolle. In der Fernsehzeitschrift als solides Drama mit vorhersehbaren Wendungen beschrieben.

Aber das ist alles Spekulation, die mit zwei Worten vom Tisch sind: Claudia Piñeiro! Denn sie ist die Autorin, und ihr Name steht für Qualität. Wer das Buch zum ersten Mal liest, wundert sich. Denn die Geschichte ist nicht gerade neu. Auch benutzt Claudia Piñeiro keine ausgefallen Worte (außer vielleicht Evaluierungsgespräch, aber das ist nur der Aufhänger für eine grandios erzählte Geschichte) oder gewagte Satzkonstruktionen. Nein, alles ganz normal. Das ist das Geheimnis der Autorin. Keine Auffälligkeiten, aber die richtige Dosis an der richtigen Stelle. Dieses Buch lässt keinen kalt!

Mary, wie sie sich mittlerweile nennt, wohnt in Boston. Ihre große Liebe Robert ist verstorben. Auch als Reminiszenz an Robert führt sie im Namen einer Eliteschule Gespräche über eine Partnerschaft in ihrer argentinischen Heimat.

Schon lange vor ihrem Abflug kommen die Geister der Vergangenheit zu ihr zurück. Damals, als sie am Bahnübergang stand, Schranke geschlossen, kein Zug weit und breit. Und sie einfach los fuhr. Mit verheerenden Folgen. Flucht war für sie damals der einzige Ausweg. Die Anfeindungen und die Scham trieben sie davon, weit weg. Sie ließ auch ihren Sohn zurück…

Der lebt noch. Weiß kaum noch was von damals. Damals – das klingt so weit weg und ist doch so nah. So nah, dass es Mary an den Schreibtisch treibt. Doch das Blatt bleibt weiß. Anfangs. Was nun folgt, ist eine literarische Meisterleistung. Statt eine verzweifelte Frau zu skizzieren, die tränenaufgelöst nach Entschuldigungen sucht, lässt Claudia Piñeiro Mary kämpfen.

Wer schon mal in einer ähnlichen Situation war, nimmt „Ein wenig Glück“ als Bibel zur Selbstheilung zur Hand. Garantiert! Die Einfachheit der Mittel und die daraus resultierende Intensität der Worte erschlagen den Leser immer wieder. Stück für Stück legt die Autorin die Ereignisse von damals aufs Tapet. Natürlich hat Mary damals einen Fehler gemacht. Das weiß sie. Das weiß auch der Leser. Anschuldigungen? Keine Spur. Gut so. Denn Mary hat gelitten. Wohl auch genug gelitten. Übermut? Fehlanzeige. Mary ist erwachsen, hat sich mit sich selbst auseinandergesetzt. Robert war ihr immer eine Stütze, brachte ihr mit schlafwandlerischer Sicherheit die richtigen Bücher.

„Ein Wenig Glück“ ist eine Hommage an die Kraft der Bücher. Sie können vielleicht nicht heilen, jedoch Schmerzen lindern. Mary hat das in den vergangenen Jahren immer wieder erfahren dürfen. Und so gibt es nur eine einzige Lösung: Ihre Erinnerungen niederschreiben. Und da kommt der Kunstgriff der Autorin: Hier ist das Buch zu Ende. Was soll man sich nun wünschen? Eine Fortsetzung oder eine Ende á la Michael Haneke, bei dem der Leser selbst aktiv wird? Wie auch immer sich Claudia Piñeiro entscheidet, es wird (oder bleibt) großartig!

Der kleine Bär in der Schule

Der kleine Bär in der Schule

Man muss es erst einmal loswerden: Ach, wie süß! Hätten wir das schon mal geklärt. Wer also nicht auf niedliche Bärchen in Büchern steht, kann jetzt aufhören zu lesen. Denn: Es hört nicht auf!

Der kleine Bär stromert durch den Wald. Zuhause bereitet seine Mama das Winterlager vor, um die kalte Jahreszeit in Tiefschlaf verbringen zu können. An einem Baum hängt ein seltsames Ding. Sieht komisch aus, und ist es auch. Es ist eine Mütze. Und gar nicht weit entfernt sieht der kleine Bär viele Kinder, die ebenso diese Mütze tragen. Alles Freunde. Sie nehmen den Bären an der Pfote und nehmen ihn mit in den Unterricht. Puh, ganz schön anstrengend. Ruhig sitzen, rechnen. Die Lehrerin holt den Mini-Meister Petz aus seinen Träumen. Erst jetzt erkennen alle, dass er nicht der Neue ist, sondern ein Bär.

Jean-Luc Englebert hat selbst Kinder – er weiß wie man Kinderherzen höher schlagen lässt. In Wort und Bild! Die klaren Zeichnungen verzaubern auf den ersten Blick. Man spürt förmlich das zufriedene Grunzen des schlafenden Bären im Unterricht. Wie das rhythmische Knarzen eines antiken Schrankes döst er vor sich hin.

Kinder, die den Luxus des Vorlesens noch genießen dürfen, entdecken auf jeder Seite neue Dinge, die sie natürlich sofort kundtun müssen. Ein Lesespaß für Groß und Klein!

Fidel Castro: Revolutionär und Staatspräsident – Hörbuch

Fidel Castro Hörbuch

Kuba – was für eine Leidenschaft diese vier Buchstaben hervorrufen. Weite Strände, Plamen, endloses Meer, Lebenslust unter karibischer Sonne. Doch auch seit über einem halben Jahrhundert ein Staat, der mit Kampf, revolutionären Ideen und einer Vision in Verbindung gebracht wird. Und einem Mann: Fidel Castro. Ein Name wie Donnerhall für seine Feinde, Erlösung und Balsam für die geschundene Seele für die ihm Dankbaren.

Elke Bader zeichnet mit ihrem Hörbuch ein differenziertes Bild des Máximo Lider. Stimmungsvoll untermalt mit Radio-Ausschnitten und Musik, erzählt von den markantesten Stimmen der Hörbuchszene Gerd Heidenreich und Johannes Steck sowie Murali Perumal. Vier CDs, die das spärlich vorhandene, oft verzerrte Wissen um den gewieften Taktiker und mitreißenden Redner um so manche Anekdote ergänzen und anreichern.

Knapp fünf Stunden lauscht man gebannt den Stimmen, wird zurückversetzt in eine Zeit, die die gar nicht, und wenn doch nur aus Dokumentationen kennen. Mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, waren Fidel Castro die herrschenden Sich-die-Taschen-stopfenden Lenker Kubas seit jeher ein Dorn im Auge. Seine Studien – er hat gleich mehrere Abschlüsse – nutzte er, um seiner Heimat eine seiner Meinung nach sonnige Zukunft zu bescheren. Schon Anfang der 50er Jahre desvorigen Jahrhunderts wurde ihm klar, dass den Diktatoren Kubas mit Worten nicht hinreichend beizukommen sei. Zumal sie mit den USA mächtige Rückendeckung besaßen. Der Angriff auf die Moncada-Kaserne war nur der erste Versuch mit Waffengewalt eine Veränderung herbeizuführen.

Mit Che Guevara bekam der Kampf eine Pop-Ikone an die Seite gestellt. Exil, detaillierte Planungen und eine hochmotivierte Truppe brachten endlich das ersehnte Ziel: Ein freies Kuba.

Doch die einstigen Machthaber und ihre Unterstützer ließen nicht locker. Embargos und Isolation folgten. Anbiederung trotz Vorbehalte an den sozialistischen Teil der Erde waren unumgänglich. Kuba, der einstige Sündenpfuhl Lateinamerikas, der der prüden Oberschicht des übermächtigen Nachbarn als lockeres Gegenstück der eigenen Verklemmtheit diente, wurde zum Vorzeigestaat des Marxismus-Leninismus. Als der Ostblock fiel, wankte Kuba ein wenig. Mehr aber auch nicht. Selbst als Fidel die Macht an seinen Bruder Raoul abgab, brachen noch lange nicht alle Dämme.

Die ruhige Erzählweise vermittelt ein fast schon komplettes Bild Fidel Castros. Schon früh musste er lernen sich durchzusetzen. Gegen Mitschüler, die den Ungetauften hänselten, gegen Lehrer, die ihn körperlich malträtierten. Schließlich gegen alle Widerständler, die seine Ideen nicht guthießen.

Das Ergebnis ist bekannt: Wenn Fidel redete, standen die Zuhörer stundenlang still. Solange er lebt, wird Kuba nicht fallen, heißt es. Fidel Castro ist eine Ikone, über die man nur sehr wenig weiß. Aber viel spekuliert. Und die so genannten weichen Fakten (die Anzahl der Ehen und Kinder sind ein willkommenes Fressen für die Klatschreporter) sagen nur wenig über den wahren Charakter des Staatsmannes aus.

Fünf Stunden, um einen Menschen zu beschreiben – reicht das? Nein, aber es reicht vollkommen aus, um aus einem vermeintlichen Phantom einen fleischgewordenen Revolutionär zu skizzieren. Denn sobald – und davon muss man ausgehen – Fidel Castro einmal nicht mehr ist, werden sich die Geier der Geschichtsschreibung auf seinen Kadaver setzen und ihn zerfleischen bis nur noch spärliche Reste vorhanden sein werden. Warum also nicht jetzt schon mal anfangen mit wohlklingenden und bekannten Stimmen deren Siegesgeschrei zu mildern?

Jane Austens Ratgeber für moderne Lebenskrisen

Jane Austens Ratgeber für moderne Lebenskrisen

Hätte er/sie mal jemand gefragt, der sich damit auskennt! Die Zeitungen und Zeitschriften sind voll mit Ratschlägen und vor allem Ratgebern zu allem möglichen Unrat. „Modellieren mit Kartoffelsalat“, „50 Kilo abnehmen im Schlaf“, „Wie kriege ich ihn / sie rum in 90 Sekunden“. Alles Quatsch und so nötig wie ein Geschwür. Hilft eh nicht und macht nur dumm. Doch der Ansatz sich zu belesen, um Fragen auf das eine oderandere Problem zu erhalten, ist nicht verkehrt. Es ist nur die falsche Lektüre!

Wer Jane Austens Werke abschätzig als Mädchen- oder Frauenliteratur bezeichnet, tut nicht nur der Autorin, sondern vielen Lesern unrecht, die regelrecht in die Bücher vernarrt sind. Nur ein echter Kerl liest Jane Austen! Man wird sicher kein Frauenversteher, wenn man sich Emmas Schicksal widmet. Doch die Lektüre öffnet den Weg zu so manchem Herzen…

Natürlich hatte Jane Austen nie im Sinn Ratgeber für den Alltag zu schreiben. Das war eher ein Zufallsprodukt, dennoch kann so manche Zeile als Hilfestellung angesehen werden. Man muss nur die Gegebenheiten verändern. Schon das Titelbild weist vielsagend den Weg: Ein moderne Frau des frühen 19. Jahrhunderts mit einem Tablet. Nein, nicht Tablett, auf dem für den Gatten eine Tasse Tee steht. Sondern ein Tablet-Computer. Selbst Miss Austen konnte diese Entwicklung nicht voraussehen.

Rebecca Smith hat sich als „writer in residence“ in „Jane Austen’s House Museum“ intensiv mit der Schriftstellerin beschäftigt, ihre Schriften studiert und auf Brauchbarkeit in der Gegenwart untersucht. Die Parallelen sind frappierend! So modern die Bücher damals waren, so unverhohlen aktuell sind sie bis heute. Stress mit den Eltern oder dem Angebeteten? Das kann auch die Zeit nicht heilen! Jane Austen ist auch zweihundert Jahre nach ihrem Ableben 1817 (Achtung, Jubiläum im Jahr 2017!) immer noch ein gefragte Ratgeberin.

Rebecca Smith ist regelrecht in Jane Austen vernarrt. Kein Wunder, denn schließlich ist sie die Ururururgroßnichte (viermal „ur“) der viel zu früh gestorbenen Schriftstellerin. Liebe und Beziehung, Freunde und Familie, Arbeit und Karriere, Mode und Stil, Heim und Garten sowie Freizeit und Reisen – in diese Kapitel ist das Buch unterteilt. Eigentlich das ganze Leben! Manchmal muss man schmunzeln, oft jedoch nickt man freudig den beiden Autorinnen zu. Fast zwei Jahrhunderte trennen Austen und Smith. Zwei Jahrhunderte, in denen sich die Welt gravierend verändert hat. Umso erfreulicher ist es, dass es so manches gibt, dass sie hartnäckig weigert zu verschwinden. Und dass es immer noch Interesse gibt diese Probleme auf „altmodische Weise“ zu lösen.

Mit Fug und Recht kann man nach der Lektüre von sich behaupten, dass man ab sofort mit Stolz und vielleicht ohne Vorurteil als Emma, oder wie auch immer man nun heißen mag, durch Mansfield Park oder gleich durch das gesamte Leben schreiten kann. Die gute Jane Austen wusste vielleicht nicht alles, aber bei Weitem oft einiges besser als die heutigen Pseudo-Lebensberater, die ihre Zeile nur allzu gern in den bunten Blättern wiederfinden wollen.

Lanterne rouge

Lanterne rouge

Big Pharma ist wieder unterwegs! Man nennt sie auch Tour de France. Seit Jahren wird den Fernsehzuschauern und Sportbegeisterten die Lust am Radsport gehörig vermiest. Immer wieder neue Dopingskandale, neue Enthüllungen über Vertuschungsversuche (vor allem und oft angeordnet von höchster Stelle) und höchstfragwürdige Ausreißversuche an den unmöglichsten Stellen der größten Rundfahrt der Welt. Und doch schaut man hin, ist die Faszination Radsport ungebrochen. Viele schauen ja nur noch zu, weil es sonst keine so langen Reportagen über Frankreich gibt …

Max Leonard ist selbst Radfahrer aus Leidenschaft. Auch er hat sich schon mal eine Etappe der Tour de France probiert. Ist leider gescheitert. Zu kalt, zu windig, zu verregnet. Ist der deswegen ein Verlierer? In keinster Weise! Er hat es versucht. Mit modernen Mitteln, also nicht mit Pillen oder ähnlichem, sondern mit einem hochentwickelten Fahrrad. Hat alles nichts genützt. Das war einhundertacht Jahre nach der ersten Tour de France. Gewonnen hat damals Maurice Garin. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 26 km/h. Mit knapp 16 km/h kam Arsène Millochau ins Ziel. Allerdings benötigte er fast fünfundsechzig Stunden (!) mehr. Er war das Schlusslicht der allerersten Tour de France. Kleine Parallele zur Gegenwart: Maurice Garin nahm ein Jahr später wieder an der Grande Tour teil. Allerdings machte er es sich unterwegs in einem Zugabteil gemütlich. Er flog auf. Betrügen und Tour de France gehörten also schon immer irgendwie zusammen. Das mildert vielleicht etwas die Bauchschmerzen bei der nächsten Übertragung.

Das vermeintliche Versagen beim Selbstversuch eine Tour-de-France-Etappe zu meistern bestärkte Max Leonard in seinem Bestreben nach einem Buch über die wahren Helden der Frankreichrundfahrt. Nämlich die, die durchhalten, egal, mit welchem Rückstand sie ins Ziel rollen (oder wanken). So entstand dieses einzigartige und mehr als lesenswerte Buch, das frei von unerlaubten Mitteln und trotzdem das Siegerbuch unter den Almanachs ist.

Der Autor setzt den Roten-Laternen-Trägern ein Denkmal für die Ewigkeit! Sie sind die wahren Sieger, stehen im Schatten der Großen, die sich von nun an (noch mehr) den Anfeindungen widersetzen müssen. In den vergangenen hundert Jahren hat sich viel getan. Die Tour ist länger geworden. Die Tour ist schwieriger geworden. Die Tour ist ein Reklame-Tross geworden mit sportlichem Anhang (kaum ein Sportler wird noch nach seiner Herkunft benannt, sondern nach dem Team für das er fährt – wo liegt eigentlich Alpecinien? Oder das Quick-Steppanien?) Die Kameras sind nach vorn gerichtet, auf tête de la course, und auf die Poursuivants. Das Peloton ist auch ab und zu mal im Bild. Doch die Letzten sind fast nie im Bild. Ganz hinten, kurz vor dem Besenwagen ist keine Kamera mehr. Das „internationale Bild“ hat dafür kein Auge. Max Leonard ist das Auge für die wahren Sportfans und hat ein Herz und die Leidenschaft für alle, die sich schinden und den olympischen Gedanken im Herzen am nächsten Tag wieder befeuern. Ihre Passion erlischt nie. „Lanterne Rouge“ strotzt vor Anekdoten. Ein Fest für alle, die den Radsport betreiben, sich an Übertragungen noch erfreuen können. Vielleicht trägt es ja dazu bei, dass im kommenden Jahr eine extra Kamera auf die enthusiastischen Cyclisten gerichtet ist. Schon vorher ist dieses Buch ein Must Have für Sportreporter, Radsportfans und vielleicht sogar Ansporn für den einen oder anderen Nachwuchsradler.

Typisch Welt

Typisch Welt

Siebenundsiebzig Länder gleich einhundertelf Geschichten. Endlich trifft die Phrase „Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“ zu. Martin Amanshauser reist. Und er erzählt. Er ist der Vorreiter für alle unentschlossenen Touristen. Er kennt die Welt, weiß sie zu verstehen. Und seinen Ratschlägen kann man folgen, seine Geschichten glauben. Und man kann sich königlich mit seinen Kurzgeschichten amüsieren, egal ob zu Hause oder in der Ferne. Noch eine Urlaubslektüre, die diesen Namen verdient, gefällig? Bitte sehr! Hier ist sie.

Schon beim ersten Aufschlagen des Buches sieht man das, was uns in Bewegung hält oder zumindest in Bewegung geraten lässt: Die Welt. Mit kleinen Sommersprossen der guten Laune! Typisch Amanshauser! Er reist, wir bleiben dahoam, und Amanshauser erzählt. Gespannt hängen wir an seinen Lippen und lauschen dem Komischen, dem Tragischen, dem Zufälligen, dem Hintersinnigen – einfach seinen Erlebnissen.

Martin Amanshauser ist kein Tourist. Er ist es schon, aber dann schreibt er nur in den seltensten Fällen. Wenn er schreibt, dann im Auftrag seiner Redaktion (unter anderem die der „Süddeutschen Zeitung“), und dann reist er auch. Auf Einladung. Immer jedoch mit offenem Auge und spitzer Feder. Wenn er in der Runde sitzt und seine Erlebnisse zum Besten gibt, wird keine hinterher sagen können: „Kenn ich! Is mir auch schon passiert!“ Und dabei ist es völlig unerheblich, ob Amanshauser zuhause in Österreich oder in Australien unterwegs war. Er zieht das Ungewöhnlich förmlich an.

Sicher kann so manche Begebenheit jedem passieren. Aber nicht jeder kann es so gekonnt aufschreiben!

Beispiel gefällig? Seit Jahren zermartern sich Redakteure auf der ganzen Welt wie sie den eventuellen Ernstfall des Todes von Fidel Castro schon einmal textsicher vorbereiten können. Seit seiner Abdankung als Kubas Lenker lagern schon Dutzende Nachrufe in den Schubladen der Redaktionen. Und insgeheim hoffte auch Amanshauser – bitte nicht falsch verstehen, der Autor ist nun mal Journalist, und als solcher lässt man sich nur ungern einen Scoop entgehen – dass dieser vielleicht auch während seines Aufenthaltes auf der Karibikinsel … naja wie soll man es ausdrücken ohne dabei respektlos zu erscheinen? … die Macht in der Familie endgültig an seinen jüngeren Bruder abgibt. Passierte aber nicht! Doch er fand im Fernsehen die Geschichte, die mehr über das Land erzählt als die Ernstfall-Schon-Vorbereiteten-Nachrufe es jemals tun können.

Auf den über zweihundert Seiten wird das (an)gesammelte Tun undWissen der Welt in ansprechenden Worten zusammengefasst. Ein Handbuch für global player, die nicht als Globetrottel von Land zu Land hüpfen, sondern als Globetrotter die Welt erkunden wollen.

Wer nun meint, diese Geschichtensammlung ebenso verfassen zu können – bitteschön. Martin Amanshauser ist da ganz uneitel. Er gibt sogar Ratschläge wo das alles passiert ist und vielleicht sogar wieder passieren kann.

Aufbau Literatur Kalender 2017

Aufbau Literatur Kalender

Wie oft würde man gern den richtigen Spruch oder das richtige Wort parat haben, wenn einem wieder mal was gegen den Strich geht. Eine wohlformulierte Phrase, die man seinem Gegenüber selbstbewusst um die Ohren haut. Oder einfach nur einen Leitspruch für den Tag, als Stimmungsaufheller. Seit fünfzig Jahren gibt der Aufbauverlag in diesem Fall wort- und bildreich Unterstützung für das ganze Jahr.

Der Literatur-Kalender strotzt nur so von Weisheiten. Gleich auf dem Deckblatt gibt Margaret Mitchell allen, die gern mal einen erfrischen Kick (was wortwörtlich zu nehmen ist) als Starthilfe benötigen mit auf den Weg. Sie meint, dass wir unser Glückes Schmied sind. Wer wartet, wartet oft vergebens. Nur wir selbst sind für uns verantwortlich.

Ein weiterer, sofort ins Auge fallender Vorteil ist die Tatsache, dass man endlich mal ein Bild von den Verfassern der geistereichen Gedankenblitze hat. Wer weiß schon wie Hunter S. Thompson aussah? Oder Ferenc Molnar? Oder wie die Erstausgabe von beispielsweise Baudelaires „Les Epaves“ gestaltet war.

Immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Dazu eine kurze Geschichte zu den Zeilen: Zu Ende ist das Sinnsuchen. Wohltuend auch die klischeefreie Gestaltung der Wochenblätter. Guiseppe Tomasi di Lampedusa stellt man sich vielleicht mit einem Leoparden vor. Nein, in diesem Kalender dienen Frau und Hunde als dekoratives Beiwerk. Daphne die Maurier kommt strahlend mit ihren drei Kindern und nicht düster und morbide daher.

Auch Geschichtsfaktenfans kommen ganz auf ihre Kosten. Denn an jedem Wochentag sind Geburts- bzw. Sterbedaten berühmter Persönlichkeiten abzulesen. Manch einer scheint schon vollkommen in der Versenkung verschwunden zu sein. Dank des Kalenders taucht er zumindest für einen Tag wieder auf. Und er erinnert an Jahrestage, wie den Todestag von Alfred Döblin, der sich 2017 zum sechzigsten Mal jährt.

Der Kalender verleitet sicher auch so manchen Leseunwilligen wieder mal ins Bücherregal zu greifen und sich das eine oder andere Buch (noch einmal) zur Brust zu nehmen. Und vielleicht entdeckt man darin dann seinen eigenen Kalender mit dem passenden Spruch zur Stimmung des Moments…