Archiv für den Monat: April 2014

Von Pontius zu Pilatus – Redewendungen aus der Bibel

Von Pontius zu Pilatus

Durch das Internet sind viele Behördengänge unnötig geworden. Noch vor zwanzig, dreißig Jahren waren lange Wartezeiten, unkontrolliertes Hin-und-Herlaufen an der Tagesordnung. Wie bei Asterix sagten damals viele. Oder, dass man von Pontius zu Pilatus geschickt wurde. Gott sei Dank hatte dann auch dieser Tag mal ein Ende. Man fühlte sich wie im siebten Himmel, nach dem man mit Engelszungen auf jemanden eingeredet hatte und nicht immer zu allem ja und Amen gesagt hat. Hatte man das gewünschte Formular, hütete man es wie seinen Augapfel, verlor man es, spuckte man Gift und Galle, weil einem alles über den Kopf wuchs und keine Menschenseele einem helfen konnte. Und zu Hause musste man höchstpersönlich die Hiobsbotschaft überbringen. Man kam einfach auf keinen grünen Zweig. Um das Dutzend voll zu machen: Man wurde auf Herz und Nieren geprüft.

Schon in diesen wenigen Sätzen ist ein Dutzend Sätze versteckt, die allesamt auf das Buch der Bücher zurückgehen. Egal, ob man religiös ist oder nicht: Die Bibel hat immer noch einen gehörigen Einfluss auf unser Leben. Niemand kann sagen, dass er seien Hände in Unschuld wäscht, wenn es um Sprachbilder aus der Bibel geht. Sprachbilder machen eine Sprache erst lebendig. Man kommt schon beim bloßen Durchblättern ins Staunen (Da stehen einem die Haare zu Berge), wenn man sieht, wie oft man selbst die Bibel zitiert bzw. auf ihr basierende Redewendungen verwendet.

Man muss deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Man darf ruhig ein Herz und eine Seele mit der Sprache sein. Schlimm wird’s nur, wenn man das gesagte nicht erläutern kann, einfach etwas nachplappert, was andere vorgeben. Zum Abschaum der Menschheit gehört man deswegen noch lange nicht, aber es schadet nicht, wenn man weiß, warum man mit Engelszungen auf jemanden einredet.

Gerhard Wagner hat dem Volk und der Bibel aufs Maul geschaut – nein, das ist keine Redewendung aus der Bibel, nur, wenn er es stopfen würde, dann ja – und eines der interessantesten Sachbücher zum Thema Sprachgebrauch zusammengestellt. Er hat ja auch schon Übung. Aus seiner Feder stammen auch die Bücher „Das geht auf keine Kuhhaut“ und „Also sprach Zeus“, die sich mit Redewendungen aus dem Mittelalter und der Antike beschäftigten.

Sprache ist formbar. Sie unterliegt ständiger Veränderung. Es ist wie immer: Bewährtes, Gutes hält sich. Dieses Buch wird auf lange Sicht ein Klassiker bleiben!

Baby isst mit

Baby isst mit

Der Hunger kommt beim Essen. Und je mehr man kennt, desto öfter schmeckt’s auch. So einfach ist das! Wenn ein Kind den Tisch bereichert, muss so manches umgestellt werden. Vorbei die Zeiten, in denen man sich genüsslich ein Steak fast roh einverleibte. Aber warum eigentlich? Kindernährung zuzubereiten bedeutet ja nicht, dass man selbst auf das eigene Wohlbefinden zu verzichten.

Natalie Stadelmann weiß wie man Kinder an leckeres Essen gewöhnt. Ihre Tipps sind eingängig und nachvollziehbar. Besonders wichtig sind die Hinweise zur Allergievorbeugung. Auch wenn die Allergie schon ausgebrochen ist, muss man nicht den Kopf in den Sand stecken. Auch hierbei gibt sie Hilfestellung. Der Jahreszeitenkalender, in dem sie Obst und Gemüse nach ihrer Blüte- und damit besten Verzehrzeit angibt, ist wohl das wichtigste Hilfsmittel dieses Buches. Durch die ganzjährliche Verfügbarkeit von vielen Obst- und Gemüsesorten haben viele verlernt zu erkenne, wann etwas auf den Feldern gedeiht. Wer sich nach der Natur richtet, kann gar nicht falsch liegen!

Die Einleitung ist der wichtigste Teil des Buches, der leckerste sind die Rezepte: Pastinaken-Paella, Kürbis-Karotten-Feta-Quiche, Fenchel-Lachs-Tagliatelle. Allesamt Gerichte auch für Kinder. Natürlich in anderen Mengen als für die Großen. „Baby isst mit“ ist das erste Kochbuch in vielerlei Hinsicht. Erstens kommt es bei Babies ab dem ersten Tag darauf an das Richtige zu füttern. Des Weiteren sind Grundlagen in Ernährungskunde elementares Wissen. Und zu guter Letzt soll es Kindern schmecken. Drei Kriterien, die dieses Buch bestens erfüllt.

Weißer Bruder, schwarzer Rock

Weißer Bruder, schwarzer Rock

Im Bauch von Hermine grummelt es. Alles fliegt durcheinander als der Rumpf des Schiffes Hin- und Her zu taumeln beginnt. Die Hermine sticht im Sommer 1847 in See. Ziel: Die neue Welt. An Bord ist auch der Missionar Eduard Raimund, der an den Großen Seen sein Heil sucht. Zusammen mit seiner Verlobten Ulrica Prinz will er hier eine neues Leben beginnen. Ein karges Leben. Doch erfüllt von Liebe und der Hoffnung auf unendliches Glück.

Alsbald landet er – als Missionar – bei den Chippewa-Indianern. Sein neuer Name: Mekadekonjeh, was so viel wie schwarzer Rock bedeutet. Vorurteile, Stammesfehden und die Arbeit als Theologielehrer / Missionar bestimmen ab sofort seinen Lebensrhythmus.

Eduard Raimund gab es wirklich. Michael Krausnick hat sie seiner Geschichte angenommen, recherchiert und dieses mehr als lesenswerte Buch geschrieben. Ein bisschen Friedrich Gerstäcker, ein bisschen Jack London und dazu eine gehörige Portion Biographie des mutigen Mannes aus dem Frankenland. Fertig ist eine Abenteuer-Indianer-Biographie, die Jungenphantasien erblühen lässt.

Das gläserne Glück

Das gläserne Glück

Wissembourg im Elsass am 3. Oktober 1996. In Deutschland Feiertag, in Wissembourg Kassensturz. Die Feiertagsausflügler fallen wie die Heuschrecken in dem idyllischen Ort ein. Auch der ehemalige Kripochef Friedrich Gontard. Er will mit seiner Anna den Tag nutzen, um der vertrauten Heimat kurz zu entfliehen. Zufällig (schließlich sind wir mitten in einem Krimi) trifft er seinen ehemaligen Klassenkameraden Georg Fuhrmann in einem Café. Die beiden plaudern über vergangene Tage und verabreden sich für später. Doch dieses Später wird nie stattfinden. Denn just in dem Moment als Gontard seinen alten Freund besuchen will, liegt der tot in seiner Wohnung. Die alte Spürnase nimmt sofort Witterung auf.

Der sechste Fall von Kommissar Gontard führt den Leser in die dunkelste Zeit deutscher Geschichte, geographisch in den Odenwald, die Südpfalz, an die Bergstraße und nach Südfrankreich. Ein Lesespaß mit Gänsehautgarantie. Auch wenn das Thema teils unappetitlich ist, so ist „Das gläserne Glück“ der ideale Urlaubskrimi.

Der Suppenfisch

Der Suppenfisch

Es gibt Titel, da weiß man sofort worum es geht. Dann gibt es Titel, da meint man zu wissen, wovon das Buch handelt. „Der Suppenfisch“ – klar, da geht es um einen Fisch, der gekocht werden soll. Als schmackhafte Suppe die hungrigen Mäuler stopfen. Doch da liegt man falsch.

Hätte man aber auch ahnen können, denn Georges Hausemer ist nicht dafür bekannt, dass er in seinen Geschichten das Offensichtliche in den Vordergrund stellt.

Ein Mann liegt – wie es Georges Hausemer so poetisch beschreibt – in den letzten Kurven seines Lebens. Er lässt sein Leben noch einmal Revue passieren. Denkt an den Krieg, an Reisen in ferne Länder, an Geschmäcker, die er vergessen zu haben schien. Sein Leben war und ist dreidimensional. Es geht Auf, und es geht ab. Mal ein Schwenker nach links, mal einer nach rechts. Und manchmal geht es schräg nach rechts hoch, um anschließend nach links unten seine Fortsetzung zu finden. Der Mann, der hier erzählt, weiß anfangs noch nicht, dass er sein Leben erzählt. Ein Abschlussbericht. Vielmehr hat er nun, da er seinen Alltag im liegen verbringt, viel Zeit, um zu erzählen.

Beim Lesen kommt man automatisch ins Grübeln, was ist echt, was erfunden. Spielt das Gehirn dem Erzähler einen Streich, wenn er von Fußballstadien, Flugzeugabstürzen und anderen Katastrophen erzählt? Oder erinnert er sich nur an die Busby Babes? 1958 kam bei einer Flugzeugkatastrophe die Mannschaft von Manchester United ums Leben. Georges Hausemer lässt vieles offen – gut für den Leser. Der kann so raten, mitfühlen, sich für das eigene Ende wappnen. Das Wort Tod zu vermeiden wird hier zur Kunstform erhoben. Dass es bald zu Ende belibt niemanden verborgen.

Und der Suppenfisch? Der schwimmt munter und froh zwischen den Zeilen herum. Immer wieder reißt er sich von der Leine der Erinnerung los, verschwindet im Dickicht der Phantasie. Dann taucht er keck wieder auf. Dreht dem Angler ‘ne Nase.

Die Liebe in groben Zügen

Die Liebe in groben Zügen

Vila und Renz sind ein Ehepaar, das sich schon seit Jahren kennt. Im Beruf ist die Zeit absehbar, die sie noch bestreiten müssen. Ihnen geht es gut, mit Haus und Ferienhaus in Italien. Eigentlich wenig Stoff für Konflikte. Konflikt ist vielleicht auch der falsche Ausdruck – klingt so nach Kampf, Geschrei, offener Auseinandersetzung.

Die beiden schippern so durchs Leben. Ohne große Anstrengung. Klingt irgendwie nach Langeweile, nach eingefahrenen Strukturen. Die Bahnen, in denen sich Vila und Renz bewegen sind vorhanden. Dafür haben sie lange und hart gearbeitet. Doch sie waren und sind clever genug, um sich Abzweigungen einzubauen. Wie auf ihrem Boot geht es auch mal nach unten, genauso oft aber auch nach oben. Selbstaufgabe war nie ihr Ding. Sie haben immer alles gemeinsam gemacht.

Dennoch kennen sie sich gegenseitig nicht in- und auswendig. Das ist gut so – so halten sie immer noch Überraschungen für den Anderen parat. Dass Vila ihren Geliebten im gemeinsamen Ferienhaus einquartiert, ist allerdings eine neue Stufe ihrer Beziehung.

Bodo Kirchhoff zeichnet den Weg eines Paares nach, der vielen Paaren vorgezeichnet sein kann. Kann! Wäre der Roman ein Film, für die ganze Familie, am Freitagabend, dann würden hier so richtig die Tassen fliegen. In „scripted-reality“-Manier würden Sprachfähigkeiten und die Regeln des guten Benehmens außer Kraft gesetzt werden. Bodo Kirchhoff setzt auf die Magie der Worte. Er lässt seine Protagonisten überlegen, manchmal im Dunkeln tappen, doch nie so richtig aus der Haut fahren. Geschliffene Sprache ist immer noch das beste Argument gegen scheinbare Ungerechtigkeit. Die Feder als Triebkraft für den Fortschritt.

Vila und Renz merken, dass sie in ihrer (heilen – so viel Polemik muss jetzt auch mal sein) Welt sich zwar sicher bewegten, doch dass diese Sicherheit trügen kann. Kann!

Bodo Kirchhoffs Roman „Die Liebe in groben Zügen“ stand 2012 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Zurecht. Mal philosophisch, mal grüblerisch, mal farbenfroh, mal wolkenverhangen präsentiert sich sein Mammutwerk dem Leser. Ein Buch für Leute im besten Alter. Ein Buch für Leute, die sich im besten Wortsinne für sich und den Anderen interessieren ohne dabei endlos auf Fehlersuche zu sein. Fast siebenhundert Seiten emotionale Entdeckungsreise.

Schottland fürs Handgepäck

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Modezaren halten die Schotten für die freiesten Menschen der Welt. Engländer halten die Schotten für die Eigenartigsten. Ihr Dialekt ist für Englischsprechende gewöhnungsbedürftig. Schottland gehört immer noch zu den Geheimtipps für Individualreisende. Zerklüftete Felsformationen, ein stetig beißender Wind, eine Sportkultur, die echte Kerle erfordert. Das ist Schottland.

Das ist ein Klischee. Diese Zusammenstellung von Texten beweist, dass Schottland mehr ist als das Land der rauen Sitten. Virginia Woolf besucht Skye, die Insel des Whiskeys. Ringsum nur Meer, absolute Stille … fast wie in der Südsee. Eine eigenwillige Deutung der Umgebung.

Theodor Fontane lässt’s spuken bzw. ist dem Spuk auf der Spur. Und Coco Chanel lässt sich beim Angeln begleiten.

Jede einzelne Geschichte zeigt Schottland von einer anderen Seite. Der Leser wird jedes Mal aufs Neue überrascht und neugierig gemacht. Wer in einem Reisebuch blättert, weiß, wo er lang gehen muss, um fest in der Erde verankerte Zeugnisse der Geschichte zu finden. Ihm wird der Weg zu ehrfürchtigen Gemäuern und Trutzburgen gezeigt – auch das ist Schottland.

Wer den Weg in die schottische Seele sucht, kommt um intensiveres Lesen nicht herum. Seit Zeiten haben die schottischen Highlands, die düsteren Schlösser und die weite See die Phantasie beflügelt. Einsam an den Klippen zu sitzen, der tosenden See zu lauschen – ein Traum für Viele. Doch diese Eindrücke in Buchstaben, Worten, Sätzen festzuhalten, gelingt nur Wenigen. Die, denen es gelungen ist, sind in diesem Buch versammelt. Sie schildern ihre Eindrücke zweifelsfrei. Dem Leser bleibt es überlassen nur in Gedanken nach Schottland zu reisen oder gleich die Koffer zu packen. Letzteres wird meist vor sich hergeschoben. Das Reisefieber wird allerdings nicht so schnell zu kurieren sein.

„Schottland fürs Handgepäck“ ist aber nicht einfach nur der Titel des Buches, es ist eine Aufforderung. Dieses Buch darf man nicht zu Hause liegen lassen. Immer mal wieder darin blättern. Die eine oder andere Geschichte abermals lesen. Das ist die Bedienungsanleitung für dieses Buch.

Roma romanissima

Roma, romanissimo

Noch ein Stadtführer über Rom. Ist das wirklich nötig? Ja, denn es gibt noch kein Reisebuch für junge Leute. Und das auch noch von einem aus der Zielgruppe! Lucas Militello ist Römer, jung und ein Kenner seiner Stadt.

Bei seinem Buch bedient er sich eines Kunstgriffes: Zuerst besänftigt er die Gemüter, die schon heiß laufen bei dem Gedanken Rom nur aus der Sicht shoppingwütiger, geschichtsdesinteressierter, lauter Jugendlicher zu erobern. Das Colosseum und die Spanische Treppe gehören genauso in dieses Buch wie Fast Food und der obligatorische Sundowner (den viele noch als Absacker kennen).

Kurzweilig schlendert er durch Rom. Denn Hektik und ewiges Getriebensein passen einfach nicht zur Metropole am Tiber. Auch wenn es oft so wirkt. Nach den Highlights und Sehenswerten folgen Lebens- und Liebenswertes. Das ist Rom! Die Parks sind die viel gerühmten grünen Lungen der Stadt. Hier sind Touristen nicht unter sich, hier teilt man sich Seit an Seit mit Römern die Entspannung vom Alltag. Ein Touristenalltag sieht freilich anders aus als der eines Bewohners, Erholen müssen sich beide Spezies. Fit werden beide wiederum im Il Caffe. Einen Corretto im Stehen, ein kurzer Plausch und schon kann’s weitergehen durch die Ewiges Stadt.

Ohne Essen oder wenigstens darüber philosophieren – wer das beherrscht, hat die Römer auf seiner Seite. Dazu noch ein bisschen Nörgeln oder Herziehen über die Oberen und alles ist perfekt. Apropos Essen: Luca Militello hat natürlich auch ausgewählte Einkehrtipps. Wohltuend ist hierbei, dass er auf die sonst üblichen Superlative „die beste Pizza der Stadt“ und „die leckerste Pasta diesseits der Alpen“ verzichtet. Jeder hat seinen Geschmack, manche selbigen noch gar nicht gefunden. Aber Lucas – wir dürfen ihn beim Vornamen rufen, er duzt uns auch – legt die richtige Brotkrumen- bzw. Pasta/Pizzaspur.

Rom muss man besuchen! So viel steht fest. Kaum eine andere Stadt bietet so viel Geschichte, die bis heute noch nachwirkt, wie die Stadt am Tiber. „Roma, romanissima…“ ist der gedruckte, traditionelle Ableger einer gleichnamigen Seite in einem sozialen Netzwerk. Sozusagen das Bindeglied zwischen seit langem bewährt und neuer Technologie. Jede Generation hat Rom für sich selber entdecken müssen. Die, die heute die Nase rümpfen über die Jugend haben es früher auch nicht anders getan. Sie hatten allerdings nicht dieses Reisebuch. Vorteil Jugend!

Leben in West-Berlin

Leben in West-Berlin

Das musste ja so kommen! Nachdem vor einiger Zeit der Prachtband „Leben in Ost-Berlin“ die Bildbühne betrat, ist es nur logisch, das jetzt mit „Leben in West-Berlin“ der Nachfolger für Furore sorgen wird. Tauend Bilder aus dem Archiv von picture alliance wurden für dieses Buch, … nein für dieses Mammutprojekt zusammengetragen. Sie zeigen den Alltag in ungeschminkter Schönheit der eingekesselten Stadt.

Die Bilder stammen aus den Jahren 1945 bis in die Gegenwart. Dem Mauerfall wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Denn das war der Wendepunkt, an dem sich Berlin wieder entfalten konnte. War es vorher immer die bedauernswerte Metropole, der Trotzposten im Feindesland, ging es jetzt steil bergauf. Künstler, Industrielle, Menschen aller Couleur strömten an die Spree. Hier wurde nicht nur Geschichte geschrieben, wird sie wieder gemacht.

Günther Nessel gibt buchstäblich den Rahmen für die außerordentlichen Fotos und Fotogeschichten vor. Wer Berlin bisher oder in der Vergangenheit nur von einer Seite der Mauer kannte, erlebt nun endlich die andere (für viele die „bessere“ Seite) kennen. Legt man die sich ergänzenden Teile „Leben in Ost-Berlin“ und „Leben in West-Berlin“ nebeneinander, entdeckt man viele Parallelen, aber auch so manche Unterschiede. Die Unterschiede sind offensichtlich: Kleidung, Fortschritte beim Aufbau – alles nur äußerlich. Tief drinnen waren die Berliner immer eins. Auf beiden Seiten der Stadt mussten die Menschen arbeiten gehen. Das, was sie sich mit ihrem verdienten Geld anschafften, unterschied sich hier und da der Mauer.

Doch man muss dieses Buch sich selber anschauen – jeder wird was finden, was er kennt, womit er eigen Erlebtes verbindet. Sei es nun Klaus Kinski motzend auf der Bühne oder das schelmige Lächeln von Paulchen Kuhn. Oder die Gründungsversammlung der Freien Universität im Titania-Palast 1948. Oder 1971 die ersten Politessen der Stadt. Oder oder oder!

Tausend Bilder sagen mehr als tausend Worte!

Besonders im letzten Kapitel „Leben mit der Mauer“. Mauerspechte reißen ein, was Jahrzehnte zuvor „ohne Absicht“ aufgebaut wurde. Die Mauer war das Wahrzeichen der Stadt. Ungewollt. Heute spazieren Menschen aus aller Welt auf dem ehemaligen Todesstreifen. Hüpfen symbolisch von Ost nach West. Keine Hinweisschilder, dass man nun von einem Sektor in den anderen kommt – nur noch zu Erinnerungszwecken. Kein Winken über die Mauer zu den Verwandten auf der anderen Seite. Die Friedrichstraße ist wieder das, was sie einmal war: Konsummeile mit Blickfang.

„Leben in West-Berlin“ holt die Zeiten zurück, die man schon vergessen glaubte, gute wie schlechte. Ein grandioses Zeitdokument, das schwer wiegt.

Amerikaner schießen nicht auf Golfer

Amerikaner schießen nicht auf Golfer

Golf – welch ein Sport. Man kann es allein spielen, gegen sein eigenes Handicap. Oder zu zweit, und dabei schwatzen, tratschen, Geschäfte machen. Oder in der Gruppe. Golf hat hierzulande einen zweischneidigen Stellenwert. Zum Einen der klischeebehaftete Yuppie-Porsche-Zahnarzt-Sport für Leute mit zu viel Geld. Meist verwäscht der Geldadel auch die traditionellen Regeln – jeder Platzbetreiber will ja schließlich auch zur High Society gehören.

Zum Anderen ist es der Sport, der den ganzen Körper beansprucht. Wer schon einmal versucht hat den kleinen Ball mit einem Schläger in die Lüfte zu befördern, weiß am nächsten Tag noch ganz genau woher sich jeder einzelne Muskel sein Stigma abgeholt hat.

Achtzehn Kapitel – genauso viele Löcher hat ein Golfplatz. Und jede Runde hat ihre eigene Geschichte. Luzi und Jevi spielen im Nirgendwo Golf. Niemand würde hier, in der Ödnis einen Golfplatz vermuten. Und ihr Einsatz ist nicht von dieser Welt. Ja, er könnte den gesamten Weltenlauf auf den Kopf stellen. Doch es gibt einen, der noch besser ist: Abdul. Er kennt den Platz wie kein Anderer.

In Beuersberg in Deutschland sind die Befindlichkeiten der Spieler andere. Ines und Gisela (die sich außerdem in Italien auf einem Golfplatz herumtreibt) sind auf der Suche nach Anschluss. Kurz bevor es zu spät ist. Sie sind auf Männerjagd. Darüber geraten sie in Streit. Denn statt der üblichen fünf Euro Einsatz pro Loch, ist Heini der Gewinn. Zahnarzt. Anfang 50.

Im schottischen St. Andrews – dem traditionsreichsten Club der Welt – zwingt ein libanesischer Waffenhändler gekonnt seinen Schwiegersohn die Trennung einzuleiten, weil Tochter und Vater unzufrieden sind. Taktik im Spiel – Taktik im Leben. Golf ist universell.

Die eben angesprochene Gisela tröstet sich derweil mit Dante in Italien. Der weiß ganz genau wie man Frauen verführt, wie sie sein Leben finanzieren. Doch Gisela ist gewiefter als all die anderen Betthäschen zuvor. Sie durchschaut sein Spiel. Am Ende gewinnen beide. Patt.

Christine Gräns Golfgeschichten sind Alltag und Sonderbarkeiten zugleich. Genauso stellt man sich Golfer vor. Immer ein wenig drüber. Überkandidelt. Einsätze, die jedes Maß sprengen. Zuerst die Show, dann der Sport. Und die Einkehr am neunzehnten Loch. Im Gegensatz zu den meisten Fernsehübertragungen wird es hier niemals langweilig. Ihre Protagonisten sind einzigartig, und doch austauschbar. Ein Reise über die Greens der Welt.

Achja, Luzi und Jevi sind der Teufel und Gott, die um die Seele spielen. Und das tun sie in Kabul. Man könnte fast meinen, dass hier die Redewendung „natürlich gewachsener Bunker“ ernst zu nehmen sei…