Archiv der Kategorie: Davids Sterne

Die einzige Frau im Raum

Da steht sie nun auf der Bühne – das Publikum ist außer sich. Sie, die Sissy, hatte die Reserviertheit der Wiener mit nicht einmal zwanzig Jahren in Raserei verwandelt. Das bisschen Naserümpfen wegen der überbordenden Blumensträuße – Zuchtrosen edelster Herkunft – macht ihr nichts aus. Dass hinter der Armada floraler Ehrerbietung eine menschliche Tragödie lauert, kommt ihr zwar zur Ohren. Doch wirft die alle Zweifel über Bord. Fritz Mandl ist der Gönner. Er spendet auch noch standing ovations als alle anderen wieder in ihren Sitzen versunken sind. Fritz wird ihr erster Ehemann. Im Jahr 1933 für eine Jüdin schon ein gewisses Wagnis. Zumal Fritz Mandl ein gewissenloser Waffenfabrikant ist, der Italiens und Deutschlands Kriegstreiber nur allzu willfährig unterstützt. Ach ja, die junge Frau lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch Eva rufen. Ein paar Jahre später sieht ihre Welt ganz anders aus: Der Fritz ist ein brutaler Kerl geworden. Er hält Hof, um den Lamettahengsten der Nazis zu schmeicheln. So mancher Großkopferter geht im Haus Mandl ein und aus. Und zwischendrin die Lichterscheinung Eva. Ein bildhübsches Kind. Mehr als nur zurechtgemachte Staffage für den Kaufmann des Todes (in vielerlei Hinsicht). Sie hat auch Köpfchen. Nein, sie hat mehr als das.

Schon kurze Zeit später wird sie es unter Bewies stellen. Fritz und der Naziterror lassen Eva nur eine Chance: Flucht. Flucht nach Amerika. Louis B. Mayer, genau, der Louis B. Mayer verpasst ihr einen neuen Namen. Hedy Lamarr. Und ein neues Image. Die schönste Frau der Welt. Nicht zu unrecht. Doch Hedy, wie sie nun heißt, ist eben nun mal nicht nur ein außergewöhnlich schöner Kleiderständer, sondern eben auch eine Frau mit Kopf und Verstand. Mit dem Komponisten George Antheil entwickelt sie eine Frequenzverschlüsselung für Torpedos. Die sind somit fast nicht mehr zu orten. Leider ist die technische Lösung etwas antiquiert, so dass sie mit ihrer Erfindung nur wenig bis gar keinen Ruhm erntet. Doch ihre Erfindung, ihr Lösungsansatz ist bis heute für jedermann (!) nutzbar. Smartphones würden ohne Hedy Lamaras Zutun heute vielleicht anders funktionieren … oder vielleicht gar nicht existieren?!

Fakt ist, das Hedy Lamarr bis heute immer noch als begabte und außerordentliche ansehnliche Schauspielerin anerkannt ist. Ein gewisser Teil ihrer Bewunderer kennt auch das wissenschaftliche Potential der gebürtigen Wienerin. Doch so anschaulich wie in „Die einzige Frau im Raum“ wurde ihr Leben selten dargestellt. Marie Benedict gelingt es scheinbar spielerisch dem so reichen Leben der Eva/Hedy die Schwere zu nehmen wie niemandem zuvor. Und schwere Entscheidungen hatte die Heldin dieses Buches zuhauf zu treffen: Den Mann, das Land, den Kontinent verlassen. In der Fremde sich ein komplett neues Leben aufbauen. Sich gegen allerlei Avancen zu wehren – Louis B. Mayer war ein Machtmensch und ließ das jedem in seiner Umgebung spüren. Rückschläge musste sie verkraften. Und ihren Träumen immer wieder mit Geduld unterfüttern. Doch sie ließ sich niemals unterkriegen. Das ist wohl die größte Leistung in ihrem langen Leben.

Grenzland – Borderlands

Wenn ein Märchen mit „Es war einmal …“ beginnt, wähnt man sich in sicheren Gefilden, freut sich auf eine phantastische Reise … mit happy end. Die Geschichte eines Volkes mit „Es war einmal …“ in Verbindung zu bringen, ist mit Vorsicht zu genießen. Denn dieses „war“ ist mit Schmerzen, Leid und Respektlosigkeit eng verwoben. Die Grenzen verschwimmen hier nicht, sie sind klar ersichtlich und mit keiner Silbe unumkehrbar.

Die kleinen Städte – jiddisch Schtetl – im Osten Europas waren einmal Zentren jüdischen Lebens. Hier lebte man fernab der eigentlichen Heimat, baute sich über Generationen eine neue Heimat auf. Behielt die Traditionen bei, pflegte sie, hegte sie, bildete sie weiter aus. Man fügte sich ein, passte sich an, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Bis man es musste. Bis man vertrieben wurde. Bis man … gejagt, verjagt, gefangen, deportiert, ermordet wurde. Und das nur, weil man an einen Gott glaubte, den die Täter nicht folgen konnten. Weil man einer jahrtausende alten Hetzjagd ausgesetzt war, die für viele Grund genug war, selbige fortzusetzen. „Einfach so“, weil man es konnte, weil es von Oben erlaubt, ja sogar befeuert wurde.

Der Fotograf Christian Herrmann reist zu diesen Orten in der Ukraine, in Belarus, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Er sucht diese Orte, findet sie und dokumentiert – künstlerisch auf höchstem Niveau und in bestechender Klarheit – was nicht mehr eindeutig zu erkennen ist. Nur wer genau hinsieht, erkennt die teils kläglichen Reste einer Kultur, die präsenter ist als manch verklärter Irrgänger es sich eingestehen will. Es sind kleine Kuppeln, Häuserfassaden, ganze Straßenzüge und plattgemachte Orte, die er mit seinen Bildern in die erste Reihe zieht.

Ab und an sind noch Schriftzeichen zu erkennen. Mahnend von der Restaurierung der Gegenwart unberührt gelassen. Manchmal sogar erneuert und in die Moderne transferiert. Detailaufnahmen decken für den Betrachter explizite Details auf, die der so niemals erkennen könnte.

Offensichtliches, wie jüdische Friedhöfe, die wegen ihrer dichten Fülle immer noch als solche zu erkennen sind, stehen kleinen versteckten Schätzen gegenüber, so dass man sicherlich beim nächsten Rundgang, auch durch die eigene Stadt einmal genauer hinschauen wird. Wenn Grabinschriften erst und gerade durch hervorbrechende Flora zu neuem Leben erwachen, ist das mehr als nur ein Bild. Hier steckt eine Symbolkraft im Objekt, die noch lange anhalten wird.

Der Kunstgriff dieses Buches liegt in der Erläuterung der Bilder. Kein bedeutungsschwangerer Text stört den Bildrundgang. Ein am hinteren Buchrücken eingehangener Appendix setzt die Abbildungen in den passenden Kontext. So wird der Eindruck der Bilder durch nichts abgelenkt. Dieses Nichts ist derart nachhallend, dass man sich ihm nicht verschließen kann. So soll es sein!

Ob die Möwen manchmal an mich denken

Wenn es mit dem Urlaubsplatz an der Ostsee mal nicht geklappt hat, ist das ärgerlich. Dann sucht man sich halt was anderes. Wenn man aber die Ostsee nicht besuchen darf, weil man Jude ist, dann ist das mehr als „nur ärgerlich“. Das Reden über Einschränkungen der Nazis gegenüber Juden ist noch nicht zu Ende. Noch immer sind nicht alle Auswirkungen der Rassengesetze aufgeschrieben. Mit diesem Buch kommt eine weitere Widerlichkeit hinzu. Badeverbot an der Ostsee.

Was so lapidar daherkommt, wiegt in Wahrheit viel schwerer. In Preerow zum Beispiel, wo Goebbels seine Sommerresidenz hatte, wurden schon vor 33 jüdische Badegäste darauf hingewiesen, dass es Lokale gibt, wo sie eventuell auf Gegenwehr treffen könnten. Es ist zynisch, wenn später dann behauptet wurde, sie hätten es wissen müssen. Dem Grafiker George Grosz geht der Flaggenrummel schon früh auf den Geist. Die im Wind wehende Fahne der Weimarer Republik ist weit weniger zu sehen als das Hakenkreuz der baldigen Machthaber. Und im Ort sei man stolz auf seine nationalsozialistische Gesinnung. Wehret den Anfängen!, ein Gebot, das heute noch Bestand hat.

Der weiße, makellose Sandstrand von Heringsdorf ist auch für die Familie von Victor Klemperer, der mit „LTI“ der linguistischen Kulturverunglimpfung der Nazis die Maske vom Gesicht reißen wird, ein echter Sehnsuchtsort. Doch dem sensiblen Sprachwissenschaftler fallen die Veränderungen prompt auf. Ende der Zwanziger war es das Paradies. Drei Jahre später – als Wahlen anstanden – ist der ganze Ort politisiert. Nazi-Propaganda, von der Zeitung bis hin zu Postkartenmotiven, lassen seine Alarmglocken schellen.

Anhand von Zeugnissen wie eben denen von Victor Klemperer zeichnet Kristine von Soden den allmählichen sichtbaren Judenhass und der Judenverbannung aus der „Badewanne Berlins“ nach. Das schleichende Gift der Vertreibung breitete sich spürbar und exponentiell aus. Das Idyll wurde zur verbotenen Zone für einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Bevölkerung. Die Großzahl an Quellen verblüfft vor dem Hintergrund der zahlreichen Unwissenden, die niemals etwas vom Treiben gegen die Juden vernommen haben wollten. Umso wichtiger, dass sie jetzt gesammelt in diesem Buch noch einmal sichtbar werden.

Pogrom 1938

Man stelle sich vor, dass das Widerwärtigste, was der Mensch anderen antun kann, publik wird. Und dass es trotzdem nicht aufhört. Und dass man nicht mehr daran erinnert werden möchte. Warum? Weil man nicht will, dass es aufhört? Weil die Erinnerung zu schmerzhaft ist? Warum? Es gibt keine Antwort darauf, die auch nur annähernd plausibel wäre. Und deswegen gibt es Bücher wie diese.

Der 9. November hat besonders in der deutschen Geschichte einen ewigen Nachhall. Kriegsende, Mauerfall – das sind die offensichtlichen Gemeinsamkeiten. Aber auch der Jahrestag zum Gedenken der Opfer der perfiden Pogrome gegen Juden im Jahr 1938. Nein, darüber muss man immer noch reden, lesen, man darf sich sogar darüber aufregen, wenn es die richtigen Gründe sind.

Ja, das Buch ist Propaganda! Aber nicht, um etwas zu verfälschen, zu vertuschen, sondern um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Teils sogar mahnen. Es fällt schwer in Zusammenhang mit der Thematik von gestalterischer Schönheit zu sprechen. Imposant – ja, unbedingt. Schön hat was Verniedlichendes, und das ist nun wirklich fehl am Platze angesichts von millionenfachem Leid vor, während und nach der wütenden Raserei gegen Menschen, die schon immer (gefühlt) auf der Flucht waren, weil sie einer Religion angehörten, der man … ja was eigentlich?

Michael Ruetz begibt sich auf Spurensuche in Deutschland nach Orten, wo die Pogrome vernichtende Resultate ans Tageslicht brachten. Das Ortsverzeichnis am Anfang des Buches erschrickt wegen der Überzahl an Verbrechensorten. Dass man das nicht mitbekommen hat – auch die Folgen – ist schwer zu glauben. Die Zeitdokumente – Fotos – zeigen Menschenmassen am Straßenrand während des Prangermarsches oder Schandmarsches. Je nachdem ob man Opfer oder Täter war. Egal, ob man es wirklich war. Allein die Darstellung lässt heute noch das Blut in den Adern gefrieren. Das passierte vor nicht einmal hundert Jahren … im modernen Deutschland. Zerborstene Schaufensterscheiben, vernagelte Hauseingänge (weil die Türen herausgerissen wurden), hilfesuchende Kinderaugen, prügelnde Uniformierte, die in der Masse zu einer Stärke fanden, die sie allein niemals aufbringen konnten. Einzelne Bildausschnitte wurden vergrößert, um die Bedeutung des Aktes und des Fotos noch einmal herauszuheben.

Die Frage, ob es immer noch solche Bücher braucht erübrigt sich, solange auch nur eine Nachricht von Angriffen auf Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder sexueller Orientierung über die Bildschirme in höchster Auflösung flackert. Und auch wenn diese Meldungen einmal verschwunden sind, ist es immer noch wichtig, um daran zu erinnern. Dieses Buch leistet mehr als nur einen Beitrag dazu.

Mr. Goebbels Jazzband

Ein so kraftvolles Wort wie Propaganda braucht starke Mitstreiter. Und Propaganda treibt zeitlebens gar seltsame Blüten. Wie diese: Mr. Goebbels – das „Doktor“ lassen wir an dieser Stelle getrost außen vor (Politiker und ihr „Titeldrang“ …) – will in Kriegszeiten die Bevölkerung der Gegner mit modernen Melodien und gezielten Texten in seinen Bann ziehen. Was braucht man dafür? Musik – Jazz, das ist modern, das reißt mit. Musiker – die hat er schon gefunden. Unter ihnen Leute, die es ohne die Jazz-Band ein jähes Ende beschert gewesen wäre. Ihre Herkunft oder ganz einfach ihre Liebe zum Jazz gaben ausreichend Grund zu ihrer Vernichtung.

Und was braucht man noch? Ein Sprachrohr, das die Massen einschwört. Denn Propaganda ohne Empfänger ist wie ein Betrunkener, der vor sich hinbrabbelt. Und so wird ein Schriftsteller beauftragt die Band zu begleiten, ihre Erfolge bekannt zu machen, ihr Biograph zu sein. Und jetzt kommt’s … das ist tatsächlich alles so passiert!

Tatsächlich bezahlte das deutsche Propaganda-Ministerium eine deutsche Jazzband, um in England mit entsprechenden Texten Wohlwollen für das widerliche Treiben in Kontinentaleuropa zu gewinnen. Dass diese Geschichte in Vergessenheit geraten ist, spricht für die Perfektion der Handelnden. Dass sie nicht in der Vergessenheit versunken ist, dafür muss man Demian Lienhard danken.

In seinem Roman – historische Romane bieten sich exzellent an, um historische Fakten nahbar zu machen, und in diesem Fall gelingt es vom ersten bis zum letzten Wort – beschreibt er eine Zeit, deren Geschichten doch noch nicht komplett erzählt wurden. Das muss man sich mal vorstellen. In einem Land, in dem das Stigma Jude unweigerlich zum Tod führt (womit nicht gesagt ist, dass Jude zu sein ein Stigma ist, leider aber in dieser Zeit), spielen Menschen zusammen entartete Musik, um dem Feind des Auftraggebers zu schaden, und dem eigenen Feind zu entkommen. Perfider geht es nicht!

Als Sprachrohr fungiert Lord Haw-Haw, ein berüchtigtes Schandmaul, ein englischer Nazi, der keine Gelegenheit ausließ dem Führer und seinen Machenschaften zu huldigen. Sein Ende war nicht weniger kurios als sein unglaubliches Treiben. Er wurde unter falschem Namen angeschossen und gefangen genommen. Und zwar von einem, der auch unter falschem Namen hinter den feindlichen Linien agierte. Lord Haw-Haws Ende war weniger glamourös. Strick um den Hals, Falltür auf, das war’s!

Hat man das Staunen über diese Geschichte einmal im Griff, lässt man sich gern von Demian Lienhard durch selbige treiben. Stellenweise schmunzelt man verlegen, muss sich jedoch beherrschen, weil die Geschichte im Ganzen betrachtet überhaupt nicht lustig ist. Ein menschenverachtendes System ist eben doch nicht komplett in sich geschlossen. Das ist der Lichtblick!

Cabaret der Erinnerungen

Wie zart kann die Erinnerung an die harte Zeit sein? Samuel stellt sich diese Frage nicht. Er lebt sie. Und zwar jeden Tag. Bald schon wird er neues Leben schenken. Seine Frau samt Nachwuchs nach Hause holen… und weiterhin mit den Erinnerungen der Großtante leben. Er wird seinem Kind davon erzählen, was Rosa  erlebt hat, was sie seitdem nicht loslässt. Rosa hat Auschwitz überlebt! Als eine der Letzten kann sie noch davon berichten. In ihrem Cabaret der Erinnerungen.

Sie lebt nach langer Flucht in Shtetl City, Texas. Doch auch dieses Leben wird mal ein Ende haben. Bald schon. Das ist der Lauf der Zeit. Wenn es Zeit ist zu gehen, muss man gewappnet sein. Gerade, wenn so viele Ungeheuer versucht haben ihr das Leben zu nehmen. Sie ließ sich nicht brechen. Doch noch immer hämmern täglich die Erinnerungen auf sie ein. Wie sie im Konzentrationslager einer Hebamme assistierte, um Schlimmeres zu verhindern. Wie sie ihrer Familie fast komplett beraubt wurde. Nun öffnet sie ihr Cabaret und erzählt von dem, was einmal war, was heute noch niemanden kaltlassen kann.

Es ist ein einziger Brief, der auch Samuel diese Zeit nicht vergessen lassen kann. Darin erzählt rosa, was ihr passiert ist. Samuel lässt sich in ihre Geschichte hineinziehen. Teils aus Pflichtgefühl, teils aus Neugier. Je öfter er die Zeilen liest, desto greifbarer wird für ihn eine Zeit, die er nie erleben musste. Vielleicht ist es eine Art Schuldgefühl – die Gnade der späten Geburt – die ihn Rosas Schicksal so nah gehen lässt.

Joachim Schnerf lässt Samuel nicht im Geringsten zweifeln das Richtige zu tun. Bald schon ist er Vater. Er wird ein Leben lang verantwortlich sein für das Leben eines Anderen. Das gibt ihm Kraft Rosas Erinnerungen nicht sterben zu lassen. Es sind schon zu viele aus seiner Familie gestorben und gebrochen worden.

Die kurzen Kapitel rühren mancherorts zu Tränen, geben aber schon wenige Silben später den Platz frei für die Hoffnung, dass allein nur durch die Macht der Worte die dunkle Zeit niemals wieder ein Licht in dieses Dunkel werfen kann. In klarer Sprache, mit einfachen Worten, kindlichen Erinnerungen vermengen sich Phantasie und knallhartes Erleben zu einer Melange, die an süßem Geschmack nicht zu übertreffen ist. Auch wenn die Wahrheit bitter ist.

Der Ursprung der Gewalt

Ein Sprichwort besagt, dass Neugier der Katze Tod sei. Das trifft im günstigsten Fall darauf zu, wenn man einen elektrischen Viehzaun berührt und einen schwachen elektrischen Impuls zu spüren bekommt. Das überrascht, tut aber nicht weh.

Nathan Fabre, Lehrer für Literatur in Paris, hingegen hat sich schon öfter dem Fall des Engels Satan beschäftigt. Als geistige Ehrausforderung im Spiel mit seinen eigenen grauen Zellen. Das soll ihm bald schon zugute kommen. Als Lehrer ist er mit einer Klasse in Weimar zu Gast. Der Stadt Goethes, und Schillers. Die entsprechenden Sehenswürdigkeiten sind schnell abgearbeitet, die Horde Fünfzehnjähriger ist noch halbwegs gebändigt. Als der Ausflug zum KZ Buchenwald auf dem nahe gelegenen Etterberg sein Ziel erreicht, wird auch die Klasse mucksmäuschenstill. So ergeht es jedem, der diesen unheilvollen Ort besichtigt. Selbst der stets vorhandene Wind wird im Angesicht solcher Hinterlassenschaften und dem damit nicht wegzudiskutierenden Leid zur Nebensache.

Nathan entdeckt in einem Schaukasten ein Foto, das seine Aufmerksamkeit erregt. Der Lagerarzt Wagner, schneidig, fast schon mit einem Lächeln wird von einem Mann angeschaut, angestarrt, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Unmöglich. Papa ist erst 1942 geboren worden. Und niemand aus der Familie wurde jemals deportiert. Sein Großvater konnte unter dem Regime von General Pétain sogar weiter seiner Arbeit nachgehen. Was ein kleiner schwarzer Fleck in der Familienchronik ist.

Dieses Foto lässt Natahn nicht los. Er ruft in Buchenwald noch einmal an. Über Wagner könne man ihm viel erzählen. Auch über das Datum, wann das unscharfe Foto entstanden ist. Sogar der genaue Ort. Aber der Mann, der den Lagerarzt ins Visier nimmt, weiß keiner. Nur ein Mann, ein ehemaliger Mitgefangener, den Natahn recherchiert hat, den er um Hilfe bittet, kann ihm weiterhelfen. Wagner heißt der Mann, der dem Lagerarzt tief ins Gesicht zu sehen scheint. Wagner? So wie der Lagerarzt? Ist halt ein Allerweltsname in Deutschland. Wagner sei aber tot. Der Lagerarzt Wagner, der sich Jahre später selbst das Leben nahm, als er unter falschem Namen in Bayern lebend Angst haben musste enttarnt zu werden, hasste diesen Wagner regelrecht. Für Natahn Fabre beginnt eine Reise, an die er nie zu denken wagte. Denn Wagner ist ihm näher als die Familie zugeben möchte…

Autor Fabrice Humbert nutzt seine eigene Familiengeschichte, um mit dem Mittel der Fiktion die Realität abzubilden. „Der Ursprung der Gewalt“ ist stark biographisch, einigen Personen wurden andere Namen gegeben, doch die Geschichte ist im Großen und Ganzen die Geschichte seiner Familie. Das muss man erstmal sacken lassen. Ohne falsche Scham richtet er nicht über die Handelnden, er versucht auch nicht deren taten zu rechtfertigen. Vielmehr nutzt er die ihm zur Verfügung stehenden Mittel – Sprache, die Fähigkeit sie pointiert einzusetzen – echte Geschichte nahbar zu machen. Ein wichtiges Buch, das immer noch zum Kopfschütteln anregt, die Gemüter erhitzt und immer wieder daran erinnert, dass die Vergangenheit stets ein Teil der Gegenwart sein wird.

Eine Nebensache

Eine der unzähligen widerwärtigen Seiten des Krieges ist die Namenlosigkeit der Täter. Die Opfer und deren Angehörige wissen nicht, wem sie die Schuld geben können. Die wenigen namentlich bekannten Täter bekommen so eine Bedeutung, die ihrer Gewissenlosigkeit eine Bedeutung angedeihen lässt, die sie niemals verdienen.

Und passt es ins Bild, dass eine namenlose junge Frau, Palästinenserin, von einem Vorfall liest, der exakt ein Vierteljahrhundert vor ihrer eigenen Geburt stattgefunden hat. Israels Soldaten patrouillieren an der frischen Grenze, um potentielle Angreifern, Gegnern, Saboteuren, Feinden Einhalt gebieten zu können. Dabei greifen sie auch eine junge Frau auf. Tage später ist sie tot. Gefangen genommen, gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt, ermordet. Im Namen … ja, im Namen von wem, von was? Die Frau hatte einen Namen, die Täter auch. Dennoch liegen ihre Gesichter im Schatten der Geschichte.

Die junge Palästinenserin, der das Datum des Todes dieser jungen Frau (und dabei spielt es überhaupt keine Rolle woher sie kam, welche Nationalität sie gehabt hat) so nahe geht, macht sich auf die Suche nach den Begebenheiten, die damals geschahen. Sie will nicht anklagen, Opfersteine errichten oder Gerechtigkeit erwirken. Sie ist persönlich an dieser Geschichte interessiert. Und das nur wegen dieses Datums: 13. August 1974.

Sie bricht auf, um eine Reise zu tun, die sich verändern wird. Checkpoints in und um Ramallah erschweren ihr ein ungehindertes Weiterkommen. Immer im Gepäck: Die Angst bei ihrer vermeintlich illegalen, zumindest sich unerwünschten, Recherche aufzufliegen. Und im Kopf rattern die Gedanken in Lichtgeschwindigkeit. Immer sind es die kleinen Dinge, die ihr auffallen. Schon oft ist ihr ein Detail eher ins Auge gestochen als das große Ganze. Warum nur? Warum passiert ihr das immer?

Adania Shibli wurde 1974 in Palästina geboren. Die Parallelen zu der namenlosen Frau in ihrem Buch treten offen zutage. Vielleicht ist sie selbst diese Frau, in Grundzügen sicherlich. Beim Lesen wird einem immer wieder bewusst, dass ein Krieg niemals mit der Unterschrift unter einem Vertrag beendet ist. Er ist niemals zu Ende. Auch wenn die Hoffnung stiftende Spruch, dass Menschen und nicht Kanonen töten, sie sind es ja schließlich auch, die ihn beginnen.

Es kann Gras über eine Sache wachsen. Doch was folgt ist immer wieder Gras. Es wird immer wachsen. Im Anbetracht der aktuellen Lage in Osteuropa erlangt dieses Buch eine Bedeutung, die über die Grenzen Israels, Palästinas und der Region hinausgeht. Es bleibt allein die Hoffnung, dass auch durch dieses Buch so manches Auge weiter geöffnet wird.

Hana

Kindermund tut Wahrheit kund. Das weiß Mira noch nicht. Sie ist selbst noch ein Kind von nicht einmal zehn Jahren. In ihrer Welt hat sie schon einiges erlebt. Als es im Winter langsam beginnt zu tauen, springt sie todesmutig auf eine Eisscholle. Doch statt wie von ihren Freunden geraten, erwischt sie nicht die Mitte der Scholle, sondern den Rand und plumpst unversehens in den kalten Fluss. Mama ist natürlich nicht erfreut. Als Strafe erwartet das wissbegierige Mädchen sicher wieder Erbspüree. Und Papa wird vielleicht sogar den Gürtel rausholen.

Die Zeit vergeht. Eine Typhusepidemie erwischt den kleinen Ort in Tschechien mit voller Wucht. So wenige Jahre nach dem Krieg sind die hygienischen Zustände immer noch katastrophal. An der Hand einer Bekannten, die sie Tante nennen soll, erfährt Mira, dass ihre Mama gestorben ist. Sie hat sie schon länger nicht gesehen, wegen der Ansteckungsgefahr. Nun wird sie sie nie mehr wiedersehen. Auch Papa ist kurze zeit später tot. Das Leben hat gerade begonnen, da fehlen der Kleinen die wichtigsten Eckpfeiler.

Und schon bald steht Tante Hana in der Tür. Eine echte Tante, die große Schwester von Mama. Aber auch die Person in Miras jungen Leben, die ihr pausenlos Rätsel aufgibt. Warum isst sie nicht normal? Dann wäre sie nicht so dünn. Und warum trägt sie immer nur schwarze Kleidung? Der unfreiwillige Umzug zu Tante Hana bringt nicht nur eine räumliche Veränderung. Ihre beste Freundin eröffnet Mira, dass sie nicht mehr beste Freundinnen sein könne. Ihre Eltern wollen das so. Die kleine heile Welt bekommt erste Risse. Risse, deren Ursprung Mira nicht ergründen kann. Auch weil sie gar nicht weiß, was es heißt Jude zu sein. Das soll nämlich einer der Gründe sei, warum sie und ihre beste Freundin nicht mehr zusammen Zeit verbringen dürfen. Sie fragt Tante Hana. Stoisch wie immer, schweigsam wie immer, ein bisschen rätselhaft … wie immer zeigt Hana Mira eine Nummer, die ihr auf den Arm tätowiert ist. Und verschwindet. Jetzt versteht Mira gar nichts mehr. Sie selbst hat keine Nummer auf dem Arm, also ist sie kein Jude. Kindermund tut Wahrheit kund. Erst im Laufe der Jahre soll Mira erkennen, warum Tante Hana die Hana ist, die allen im Ort ein Dorn im Auge zu sein scheint. Alles hängt an diesen vier Buchstaben, die in der Geschichte grundlos für mehr Schaden sorgten als alle Bomben zusammen. Und derzeit wieder für Kopfschütteln sorgen, zum Glück bei den meisten, die es vernehmen müssen.

Alena Mornštajnová nutzt die Kraft ihrer Worte, um der Angst einen Riegel vorzuschieben. Drei Generationen kommen zu Wort, um dem Irrglauben entgegenzutreten, dass mit dem letzten Schuss der Krieg endgültig vorbei sei. Denn das ist er noch lange nicht! Die kleine Mira wird langsam erwachsen und versteht zusehends mehr, was Hana war, und warum sie heute so ist. Ihre Sätze gehen unter die Haut, weil sie keinen Zweifel zulassen. Schnörkellos und unfassbar ehrlich rückt sie perfiden Vorurteilen auf den Leib und entlarvt ihre Sinnlosigkeit mit der erschütternden Logik eines Kindes. Ein Buch, das man lesen muss!

Schwarzer Stern

Aus dem Schlaf gerissen zu werden, bringt das Blut in Wallung. Doch wenn Soldaten mit Waffen in die Wohnung eindringen, wo man als Hausmädchen arbeitet, die eigenen Kinder von den Eindringlingen wie Dreck behandelt werden, alle auf einen Laster verladen werden, ist ein unsanftes Aufgewecktwerden wie eine Wohltat.

Sidonie stammt aus Martinique und arbeitet bei den Dubreuils in der Nähe von Bordeaux als Hausmädchen. Sie sind ihre zweiten Eltern, die sie mitgenommen haben als sie von Martinique nach Frankreich zurückkehrten.

Die Dubreuils sind Juden – es sind die 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen diese Geschichte spielt. Der Laster, in den Sidonie und ihren Kinder Nicaise und Désiré verfrachtet wurden, hat ein unheilvolles Ziel: Ravensbrück, das KZ Ravensbrück. Das Schicksal der Dubreuils ist vorbestimmt worden. Für die Ruhestörer sind Juden und Neger nur Schweine. Sidonie weiß, was mit ihr passieren kann, sie hat davon gehört. Was ihr tatsächlich passieren wird, kann sie tatsächlich nicht einmal erahnen. Nur, dass ihr Leben wie sie es kannte, vorbei ist. Nicht mehr mit Madame Dubreuil in der Küche stehen und ihr die Geheimnisse der kreolischen Küche beibringen. Das selbst genähte Kleid für Nicaise – ob sie es an ihrem sechsten Geburtstag tragen kann?

Sidonie ist keine Jüdin, sie ist Katholikin. Das interessiert die Soldaten nicht im Geringsten. Das Freundlichste – sofern es das überhaupt gibt – ist das Lachen wegen ihrer Hautfarbe. Aber das ist nicht einmal ein schwacher Trost, es ist gar kein Trost.

Im Lager wird Désiré von Sidonie und Nicaise getrennt. Von anderen Insassen weiß Sidonie, dass ihr Sohn in einer Männerbaracke untergebracht wurde. Aber das beruhigt die junge Mutter nur ansatzweise. Denn der Mann, bei dem ihr bald einziges Kind unterkommt, ist der Mann, bei dem sie untergekommen war, der ihr eine Zukunft bieten konnte: Monsieur Debreuil. Er trägt immer noch den gelben Stern. Fast wünscht sie sich einen schwarzen Stern zu tragen…

Michèle Maillets „Schwarzer Stern“ ist eine fiktive Geschichte, die jedoch auf historischen Fakten basiert. Sidonie steht für eine Gruppe von Menschen, deren Schicksale bis heute nicht komplett aufgeklärt, geschweige denn aufgearbeitet wurden. Schwarze Haut in brauner Zeit – das war die Hölle. Sidonie kann sich an ihrem versteckten fiktiven Notizbuch/Tagebuch festhalten. Sie erinnert sich an Saint Pierre auf Martinique. Die Düfte, die Musik, die Lebensfreude. Das alles wird sie nie mehr wieder sehen. Die Kraft der Worte, die Michèle Maillet findet, ist das Stärkste, was man Rassismus und blindwütigen Vorurteilen entgegensetzen kann, ja sogar muss. Das Traurige daran ist, dass man es bis heute tun muss. Selbst Bücher wie „Schwarzer Stern“ haben Ressentiments gegenüber anderen Hautfarben, Religionen und Lebenseinstellungen nicht komplett aufheben können. Aber sie sind die permanenten Nadelstiche im Fleisch des Hasses. Davon kann es niemals genug geben!