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Mein Onkel, den der Wind mitnahm

Der Traum vom Fliegen. Schon seit Menschengedenken zieht es den Menschen nach Oben in die Lüfte. Man kann Gott näher sei, ihm ebenbürtig. Man kann dem Elend „da Unten“ entfliehen. Und: Man kann Fliegen! Wer kann das schon!

Djamshid Khan kann fliegen. Er weiß es aber erst seit dem Zeitpunkt als ihm die Gefängnismauern zu eng werden. Als Kommunist diffamiert, lernt er den kargen Alltag hinter dicken Mauern kennen. Und dann … fliegt er einfach davon.

Jahre später kehrt er zu seiner Familie zurück. Alle, die mit ihm eingesperrt waren, sind mittlerweile auch wieder daheim. Die Verwunderung ist groß, die Freude umso größer. Die Verblüffung, dass er immer noch fliegen kann, ist unendlich. Der Erzähler, sein Neffe, verfällt kurzum der naiven Idee mit dem Onkel an der Leine spazieren zu gehen.

Doch es kommt anders. Im Krieg zwischen Iran und Irak muss die Familie, die dank ihrer Herkunft einen gewissen Ruf und Anerkennung genießt, kämpfen. Auch der Onkel. Er kann schließlich fliegen, als Aufklärer aus der Luft ein entscheidender Vorteil.

Es vergehen die Jahre. Der Onkel ist immer mal wieder weg. Die Entwurzelung wegen seiner Fähigkeit zu fliegen, ist nur ein Grund. Erst am Ende des Buches darf er landen. Endlich sich niederlassen. Zur Ruhe kommen. Sich selbst erkennen. Sein Körpergewicht erlaubt es ihm nicht mehr zu fliegen… Natürlich eine Metapher.

Bachtyar Ali gelingt mit dieser leicht erzählten Geschichte das schwere Trauma seines Volkes, den Kurden, in unterhaltsame Wort zu kleiden. Wähnt man sich anfangs noch in einer phantastischen Erzählung, so kehrt sich die Sichtweise doch ziemlich schnell ins Grübeln. Ein Volk ohne Land, dessen Heimat sich über mehrere Landesgrenzen erstreckt, wird immer kämpfen müssen, um die eigene Identität am Leben zu halten. Der Onkel, der fliegen kann, poetisch „den der Wind mitnahm“, steht stellvertretend für ein ganzes Volk. Sie müssen kämpfen, immer wieder. Doch die, die sich da gegenüberstehen sind nicht Freund und Feind, sondern Feind und Feind. Das Schwarz-weiß, das man sich gern in einem Konflikt aneignet, um Stellung beziehen zu können, existiert nicht. Da bleibt einem nur die Phantasie und die Geradlinigkeit der Gedanken.

Orientreisen

Annemarie Schwarzenbach wuchs nicht mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund auf. Sie hatte einen ganzen Besteckkasten, ihre Familie zählte zu den reichsten der Schweiz. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählte sie nicht nur aufgrund dessen zu einer auserlesenen Elite, sondern einzig allein durch ihre Reisen und ihre darüber veröffentlichten Reportagen. Schon früh zog es die freiheitsliebende (und bei ihr ist es wirklich angebracht von Freiheit zu sprechen) in die Ferne. Mit der Familie gebrochen, sich offen zu ihrer Sexualität zu bekennen, sich gegen die Faschisten und ihre Ideologie zu stellen und die arabische, afrikanische, persische Welt zu erkunden.

Vieles, was sie in ihren Reportagen beschrieb, ist heute so nicht mehr zu erleben. Man stelle sich vor – welch wunderbare Vorstellung! – die Buddha-Statuen von Bamiyan würden noch stehen. Oder mit einem Kleinflugzeug über die syrische Wüste zu fliegen und die Schakale aufzuscheuchen. Und das zu einer Zeit, in der Frauen als Alleinreisende in einem kaum erschlossenen Gebiet mehr Mut brauchten als heutzutage kurzgeschorene Europa am Hindukusch verteidigende Goldgräber.

Es sind über 80 Jahre vergangen seit dem Annemarie Schwarzenbach ihre Reisen gen Osten unternahm. Vieles ist nicht mehr zu sehen. Sei es durch Zerstörung, sei es durch Bebauung, sei es durch den Zahn der Zeit. Doch sich ein stilles Plätzchen zu suchen, die Luft tief einzuatmen und diese Reiseimpressionen auf sich wirken zu lassen, hat einen höheren Lerneffekt als beim Discounter gebuchte Reisen in die Shoppingparadiese der glitzernden Malls zwischen Wüste und Golf.

Mit einfachen Worten und bildhafter Sprache zieht Annemarie Schwarzenbach den Leser in eine Zeit, die nicht mehr zurückzuholen ist. Die Türkei zum Beispiel befindet sich seit ein paar Jahren im größten Umbruch, den man sich vorstellen kann. Schrift und Sprache werden einer Radikalkur unterzogen. Dennoch gibt es vieles, was heute noch zu besichtigen ist und mit den Worten der Autorin im Hinterkopf, erkennt man vielleicht manches, was einem sonst verborgen geblieben wäre. Isfahan im Iran mit seinem markanten Meidān-e Naqsch-e Dschahān fasziniert sie damals und wirkt bis heute auf den Betrachter wie ein unwirklicher Traum.

Annemarie Schwarzenbach trieb es in Ferne, nicht um anderen etwas zu beweisen. Sie wollte selbst die Welt entdecken und erleben. Unabhängig sein und die Welt an ihren Abenteuern teilhaben lassen. Ihr gelang es mit Bravour, wie dieses Buch eindrucksvoll beweist. Leider war ihr Leben nach zu kurzer Zeit zu Ende. Sie starb im Alter von 34 Jahren nach einem Unfall und den Folgen einer falschen Behandlung.

Highlights Oman mit Dubai und Abu Dhabi

Reiseberichte bergen in sich immer einen Hauch Abenteuer und Sehnsucht. Man liest von exotischen Tieren, von prachtvollen Bauten und außergewöhnlichen Menschen. Die Bilder im Kopf sind bei jedem andere. So manches Mal wünscht man sich ein wenig an die Hand genommen zu werden, um der Phantasie einen Schubs zu geben. In diesem Bildband / Reisebericht passiert einem das garantiert nicht.

Die unzähligen Abbildungen sind aber nicht nur farbenprächtige Untermalungen der Reiseberichte. Sie sind vor allem optische Appetithäppchen, die man sich vor den Augen zergehen lässt. Das liegt vor allem an den ausgewählten Reisezielen. Oman, das einzige Land der Erde, das mit einem O beginnt. So richtig wahr nimmt man es erst seit rund einem halben Jahrhundert. Als überall, wo bereits Öl gefördert wurde, aus Dollarscheinen eine bis heute wachsende Tourismusindustrie erwuchs, verfügte Oman nur über eine einzige asphaltierte Straße. Heute nimmt das Land für sich in Anspruch sehr wohl auf der Ölwelle mit zu schwimmen, doch dem überbordenden Boom in Sachen Party und Baugigantismus die kalte Schulter zu zeigen.

Hier reist man gediegener. Oman stellt seine Geschichte mehr in den Vordergrund als seine ihn umgebenden Nachbarn, die man sowohl luxuriös bereisen kann als auch an der Discounterkasse buchen und bezahlen kann. Das Land des Weihrauches zeigt sich stets von seiner freundlichen Seite, wie die Autoren zu berichten wissen. Man ist gern eingeladen und wird derart fürstlich bedient, dass ungeübte Reisende aus Unwissenheit vor dem Neuen Scheuklappen aufsetzen. Was ein großer Fehler ist!

Dieses Buch ist nicht nur ein Augenschmaus für jeden Neugierigen, es ist ein Leitfaden, den man nicht aus der Hand legen darf. Fünfzig Ziele, Aussichtspunkte, Sehenswürdigkeiten warten nur darauf entdeckt zu werden. Sie sind allesamt mehr als nur präsentabel, sie strahlen im Sonnenlicht um die Wette, dass man gar nicht weiß wo man anfangen soll. Prunkvolle Moscheen, die in ihrer Vielfalt jeden in den Bann ziehen. Eine Oper in der Wüste, besser in einer Oase, die seit knapp zehn Jahren das Publikum in eine andere Welt hineinzaubert. Oder einfach nur Markttreiben, bei dem das Weitergehen durch das reichhaltige, oft noch fremde Angebot erschwert wird.

Oman bietet aber nicht nur unzählige Möglichkeiten den Geldbeutel im Handumdrehen von seiner Last zu befreien. Landschaftlich bietet es mehr Abwechslung auf relativ kleinem Raum als so manch vergleichbares Land. Die Höhlen von Al Hoota sind erst seit 2006 für Besucher geöffnet. Im Inneren warten Tropfsteinhöhlen und einen See, der fast einen Kilometer lang ist.

Dubai hingegen ist schon seit einigen Jahren länger kein weißer Fleck mehr auf der Tourismuskarte. Action und Shopping sind sofortige Assoziationen, die einem in den Sinn kommen. Wem das Herz nicht schnell genug schlagen kann, der ist hier bestens aufgehoben. Den Gigantismus muss man etwas abgewinnen können, streift man durch die Stadt. Ebenso der Hitze. Man gewöhnt sich schnell an klimatisierte Räume, Malls und Restaurants.

In Abu Dhabi bekommt man schnell den Eindruck, dass Tradition und modernes Luxusgefühl eine Symbiose eingehen. Man kann den Louvre besuchen – die Wartezeiten in der Wüste sind wesentlich kürzer als an der Seine – oder die Sheikh Zayed Grand Mosque besuchen. Die Augen werden übergehen und man selbst will nicht aufhören hinzuschauen.

Dieses Buch ist ein Juwel, wenn man sich vom Glanze jeder Art verführen lassen kann. Ein Buch, drei Länder, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede selten so detailreich dargestellt wurden. Als Appetitanreger, als Geschenk oder als Erinnerungsbuch immer die beste Wahl!

Im Fallen lernt die Feder fliegen

Von einer Reise vom Regen in die Traufe zu sprechen, würde dem Schicksal Aidas nicht gerecht werden. Ihre Eltern flohen vor dem Kriege zwischen Iran und Irak in den feindlichen Iran (wo sie in einem Flüchtlingslager geboren wurde) bis sie ihre Reise schlussendlich in der Schweiz in ruhigere Bahnen gelenkt wurde. Sie wuchs hier mit ihrer älteren Schwester auf. Fast schon war die Schweiz so etwas wie Heimat. Fast, denn das ewige Nachhängen des alten Lebens im Irak, was ihre Eltern, besonders ihren Vater, umtreibt, belastet den Alltag.

Der Vater kann und will sich nicht eingliedern. Zu fremd das gastfreundliche Land, das sie aufnahm, aber nach und nach auch Integrationserfolge sehen will. Die Eltern wollen zurück. Denn der Krieg ist vorüber. Die Diktatur Geschichte. Dass dem nicht so ist, davor verschließen sie gedankentreu die Augen. Was soll Aida machen? Sie ist zu klein, um allein in einem letztendlich doch fremden Land zu bleiben. Und außerdem gehört ein Kind zu seinen Eltern!

Vater bestimmt, Mutter folgt, die Kinder haben keine Wahl. Der Irak soll ihnen eine neue Heimat werden. Doch die neue Heimat ist alles andere. Als ihre Schwester unter die Haube soll, ob sie will oder nicht, kreisen die Gedanken nur noch um Eines: Flucht. Wieder einmal. Wieder einmal in die Schweiz.

Doch auch hier wird Aida nicht so glücklich wie sie es in einer richtigen Heimat wäre. Niemand da, dem sie sich anvertrauen kann. Es sind nicht die materiellen Dinge, die sie eine Heimat vermissen lassen. Gespräche, freie Gedanken sprühen in ihrem Kopf herum- Sie beginnt sie aufzuschreiben.

Usama Al Shahmani zündet ein Feuerwerk der leisen Gefühle. Die Aida, die er schuf, reift zu einer Persönlichkeit heran, die so unnahbar ist wie eine Feder im Wind. Sie selbst ist immerwährend auf der Suche. Nach sich, nach Heimat, nach Verbindungen. Sie findet sie nur, wenn sie ihr Leben niederschreibt. Auch ihr Freund dringt nicht vollends zu ihr durch. Aber er ist die Stütze, die sie braucht. Ein erster Pfeiler in einem heimatlichen Boden. In selbigen gerammt vom Schicksal. Unerschütterlich.

Aidas Leben beginnt sich wieder zu drehen. Doch es geht dieses Mal nicht darum, eine Bewegung anzuhalten oder umzukehren, sondern den Weg beizubehalten und mit Würde und Freude beschreiten zu können. Ein endgültiger Zieleinlauf ist nicht absehbar, doch nach den zahlreichen Kurvenläufen, ist die Zielgrade sichtbar.

Ein wunderbar poetischer Roman, der jegliche Klischees einer Flucht außen vor lässt. Was Flucht mit Menschen macht, wird mit sensiblen Worten und nie gekannter Sprachgewalt dargestellt.

Augenstern

Nichts ist mehr wie es einmal war. Damals als er in den Krieg zog, den Krieg gegen Irak. Er, Amir, auf iranischer Seite. Der Irak unter der Führung eines gewissen Saddam Hussein wird vom Westen mit Waffen unterstützt, um dem neuen Gottesstaat Iran den Garaus zu machen … was seit einem Jahrhundert immer wieder und fortwährend geschieht, aber niemals endgültig zu Erfolg führt. Die iranische Bevölkerung wurde Jahrtausende von einem Schah mit Folter und Bespitzelung unterdrückt. Jetzt hält eine Schar religiöser Führer das Land mit Folter und Bespitzelung im Schwitzkasten. Doch Amir zieht mit Begeisterung in den Kampf.

Momentan muss er nicht mehr an der Front kämpfen. Ein Arm fehlt ihm, genauso die Erinnerung an das, was einmal war. Reyhaneh ist an seiner Seite. Sie liebt ihn, doch die Zweifel an seiner Aufrichtigkeit nagen an ihr. Auf seinen Schultern – und darin liegt die Einzigartigkeit dieses Romans – leben, schreiben, lasten zwei Engel. Einer links, einer rechts. Sie notieren alles aus seinem Leben. Das haben sie auch schon vor dem Krieg getan. Ihre Niederschriften sind Amirs Gedächtnis. Doch die Engel spielen ihm immer wieder einen Streich. Da ist hinter einem dichten Schleier, der nur vage Andeutungen durchlässt diese Frau. Ein wildes Ding. Sie nimmt sich, was sie braucht. Auch von Amir. Er kann es ihr nicht geben.

Viel klarer sind dagegen die Kriegserinnerungen. Granaten, di in zerfetzten Körpern stecken und ihre Arbeit nicht verrichten, dennoch ihr Ziel erreichten. Widerwärtiger Gestank und poetische Träume lassen in Amir zwei Herzen schlagen. Nicht immer im Gleichklang.

Und zwischendrin das, was selbst Europäer immer wieder von einer fremden Welt schwärmen lässt. Die Basare des Landes. Das funkelnde Gold. Für Amir hat es eine tiefere Bedeutung. Das Gold, das so strahlend und funkelnd das Gesicht der geheimnisvollen Frau erleuchten lässt.

Shariar Mandanipur schafft eine geheimnisvolle Welt, die so real ist, dass man sich in ihr heimisch fühlt. So greifbar die Gedanken Amirs sind, so unnahbar sind im Gegenzug seine Erinnerungslücken. Man fiebert mit dem Protagonisten mit und wünscht ihm so sehr, dass seine Welt wieder in die richtigen Bahnen gelenkt wird, obwohl man weiß, dass dies mit großen Opfern verbunden ist. Liebesgeschichte vs. Kriegstrauma? Oberflächlich gesehen, ja! Doch hinter der Fassade des Bösen wartet ein Zaubergarten mit duftenden Blüten und wohlschmeckenden Früchten, die dem Leser das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.

Ein Witz für ein Leben

Schon bei Durchlesen des Klappentextes steht fest, dass in diesen Kurzgeschichten nichts so sein kann, wie es beschrieben wird. Da folgt ein Junge einer Kuh. Warum? Na, weil sie in einem Kino saß und dann davon trabt. Doch warum ist sie in einem Kino? Na, weil sie vor einer Falle türmte als sie in einem Panzer saß. Alles klar?

Mazen Maarouf lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass seine Geschichten tatsächlich so passiert sein können. Unbeirrt setzt er Ideenfackeln in eine Welt, die real ist. Doch in ihr zu leben, ist nicht einfach. Wie auch, wenn neben einem Granaten einschlagen und man trotzdem zur Schule gehen muss? In einer Welt, in der Schläge vom Vater als Adelung gelten. Ein Paprikastrauch zum Symbol für Überleben und Verantwortung reift. In der ein Aquarium zum Kinderzimmer mutiert.

Die Welt dreht sich weiter. Bei Mazen Maarouf dreht sie sich nicht schneller, nur manchmal in eine andere Richtung. Mit faszinierten Augen stellt man fest, dass alles aus den Fugen geraten scheint, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Immer wieder zieht Mazen Maarouf den Leser in seine surrealen Phantasien hinein. Und immer wieder fühlt man sich darin wohl. Wenn Milizen ihren perfiden Geschäften nachgehen, ist man angewidert. Wenn ein Junge seinen Bruder verkaufen will, um dem Vater ein Glasauge zu kaufen, schockiert die Selbstverständlichkeit der Worte, mit der der Autor den Leser verführt.

Palästina ist die Heimat von Mazen Maarouf. Mittlerweile lebt er als Autor und Übersetzer in Reykjavik und Beirut. Wer in seinen Geschichten den einen Witz sucht, wird ihn nicht finden. Das ganze Buch ist gespickt mit doppelten Böden, irren Begegnungen, kindlichem Reigen. Man verbietet sich selbst mehr als einmal zu schmunzeln. Wie kann in einer derart verdorbenen Welt ein Lächeln über die Lippen kommen. In einer Geschichte fragt sich das auch der Protagonist. Seit seinem neunten Lebensjahr hat er seine Lippen nicht mehr zu einem Lächeln geformt. Aus Protest. Und doch huschen immer wieder ein Lachen oder ein Anflug dessen über das Gesicht. Humor ist die einzige, die kein Embargo aufhalten kann.

Die Lehmbauten des Lichts

Jedem den Jemen. So einfach lässt es sich leider nicht machen. Der Jemen gehört noch lange nicht zu den Top-Destinationen für Erholungssuchende. Schon gar nicht für die, die schon am Morgen im Pool ihr erstes Heineken-„Bier“ intus haben und sich am Büffet ein cholsterinwertversauendes Würstchen mit pappigem Rührei einverleiben. Es ist ein Land für Abenteurer oder Leute, auf Einladung von Kulturorganisationen im Land ein ausgedehnter Aufenthalt ermöglicht wird. Dann sollte aber auch darüber berichtet werden. Guy Helminger gehört zur letzten Sorte und hat seinen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit aller erfüllt. So nüchtern darf man sich diesem Buch aber nun auch nicht nähern. Denn Guy Helminger hat ein realistisches, gefühlvolles und lebensnahes Portrait eines Landes erstellt, das von der Geschichte und ihren Akteuren arg gebeutelt wurde. Im folgenden Jahr, 2020, begeht man – wie auch immer – den dreißigsten Jahrestag der Wiedervereinigung des Jemens. Damit sind die möglichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Land am Golf von Aden und dem Roten Meer aber auch schon erschöpft.

Erschöpft wirkt Guy Helminger nicht im Geringsten, wenn er davon berichtet wie er im Jemen ankommt, sich durch ein fremdes Land vorsichtig bewegen muss und es nach einigen Wochen wieder verlassen hat. Das war 2009. Bis heute haben sich die Nachrichtenmeldungen über das Land kaum verändert: Elend, Krieg und Hunger sind die Hauptschlagworte, wenn über das Land berichtet wird.

Lange suchen musste der Autor nicht, um seine Geschichten zu finden. Jeder, mit der durchs Land reiste, mit dem er faszinierende Orte besichtigte, sprach über Korruption. Ohne Bakschisch geht hier nichts. Was den Gesamteindruck von Land und Leuten nicht im Geringsten trübte. Denn so manche vermeintlich gefährliche Situation löst sich nach einigem Hin und Herr schnell in Wohlgefallen auf. Etwa bei einer Verfolgung wie in einem Agententhriller: Guy Helminger wird – wie so oft – von einem Fremden angesprochen. Er möchte jedoch nicht dessen Dienste in Anspruch nehmen. Helminger sieht wie der Verschmähte sich mit einem Anderen unterhält. Beide Männer verfolgen den Autor. Schon bald ist ein Dritter im Spiel und man trifft sich in einem dunklen Keller wieder – Geheimpolizei! Doch die haben sich nur gewundert, warum jemand so viel fotografiert.

Der Jemen ist heute – zehn Jahre nach Guy Helmingers Reise – immer noch kein Land, das zusammengewachsen ist, und in dem man als Tourist barrierefrei von A nach B kommt. Für die Menschen im Land, die mehr unter der Knute von Rebellen leiden als in den meisten Diktaturen der Welt, ist es ein Leben, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Da scheint die Sehnsucht nach diesem Land, die in diesem Buch durchaus geschürt wird, wie ein unanständiger Wunsch.

Die Seidenstraße – Landschaften und Geschichte

Mit dem Wissen, dass die eine Seidenstraße nicht gab, nicht gibt und sicherlich auch niemals geben wird (maximal als Restaurantname) liest es sich viel entspannter durch diesen Prachtband.

Die Seidenstraße bezeichnet Handelsrouten, die schon vor über zweitausend Jahren die Völker, vor allem aber die Händler, aus dem Osten mit denen aus dem Westen verbanden. So gelangten Porzellan und Gewürze, Zahlen und Musik, aber auch Brauche und Tiere von einem Ende der Welt ans andere.

Auf knapp fünfhundert Seiten wird die Pracht der Wege – mal eng wie die Gassen einer Kleinstadt, mal unendlich breit, nur von Bergketten begrenzt – in ihrer ganzen Vielfalt dargestellt. Die Bilder springen als Erstes dem Betrachter ins Auge. Farbenprächtige Mosaiken, traditionelles Handwerk, prunkvolle Teppiche, erhabene Reliefs, einsame Oasen, verlassene Ruinen, umgeben von spannenden Texten, die von Forschern geschrieben wurden, die sich ganz und gar ihrer Arbeit verschrieben haben. Allesamt Experten auf ihrem Gebiet.

So umfangreich und eindrucksvoll wurde die Seidenstraße noch nicht dargestellt. Die Vielzahl von alten Karten und Plänen, die Interpretation von Handwerkskunst, Funde von alten Schriften erstaunen ab der ersten Seite.

Es ist nicht leicht so ein Schwergewicht wieder beiseite zu legen. Ein bisschen Fernweh kommt auf, wenn man von exotischen Orten wie Simurgh, Pir-e Sabz oder Samarkand liest. Viele Orte sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich, so dass einem nur der Griff zu diesem Buch bleibt, um sie erleben zu können.

Nicht nur Geschichtsfans kommen hier auf ihre Kosten. Jeder, dem Abenteuer nicht fremd sind, wird mit wachsender Begeisterung in diesem Buch blättern, lesen und sich an Texten und Abbildungen erfreuen. Gepaart mit Wissensvermittlung, die einem Telefonjoker bei „Wer wird Millionär?“ vor Neid erblassen lassen.

„Die Seidenstraße – Landschaften und Geschichte“ eröffnet eine alte neue Welt. Die gekonnt in Szene gesetzten Schätze – von Grabsteinen über tanzende Pferde bis hin zu Edelsteinen – vermitteln nachhaltig einen detaillierten Einblick in über zweitausend Jahre Kulturaustausch, der heutzutage viel zu oft und viel zu offen angeprangert, manchmal sogar verteufelt wird. Erst dieser Kulturaustausch erlaubt die eigene Kultur im richtigen Licht zu sehen. Dieses Buch muss man zumindest einmal im Jahr in die Hand nehmen, um nicht zu vergessen, dass Kultur immer auf Gegenseitigkeit beruht.

Perwanas Abend

Was für eine grausame Welt?! Da warten Männer mit Säure vor Schulen, um die, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen, zu verstümmeln. Frauen werden aufgeschlitzt und enthauptet. Religiöse Fanatiker zeihen durch die Stadt und stecken Friseurläden in Brand. Als Frau in dieser Stadt – irgendwo in Kurdistan – hat man es mit den übelsten Typen zu tun. Den Mund halten, sich mit ereifern, ist das Schicksal der älteren Frauen. Keine Welt für einen Freigeist wie Perwana. Sie und ihre Schwester Khandan, der man schon oft nahgesagt hat, dass sie mit dem Teufel im Bunde stehe, Stürme heraufbeschwören könne, leiden wie kaum jemand anderes im Ort. An Liebe, wie auch immer diese aussehen mag, ist nicht zu denken. Und der Teufel ist nicht nur ein Wesen, das man mit Bösem in Verbindung bringt, es ist real in den Köpfen der kuschenden wie übereifrigen Bewohner: Es ist Perwana.

Sie will lieben, leben. Lieben will sie Fareydun Malak. Und das tut sie auch. Und er liebt sie. Doch es darf nicht sein, was nicht sein darf. Und so beschließen sie die bedrückende Enge ihres jungen Lebens hinter sich zu lassen. Nur ein Satz bleibt: „Erinnere Dich an mich!“.

Khandan, die jüngere Schwester Perwanas saugt diese Worte auf wie ein Schwamm klares Bachwasser. Sie versteht noch nicht ganz die Bedeutung der Worte. Die Luft ist blutgeschwängert. Das Opferfest steht an. Jedes Tier wird bestialisch und öffentlich geschlachtet. Perwana und Khandan müssen nun von Haus zu Haus gehen und das Fleisch verteilen. Die stickige Luft, die nach Fleisch und Blut stinkt, schnürt ihnen die Kehle zu und erstickt jeden Gedanken an eine bessere Welt.

Rings um die Stadt wurde eine Straße gebaut. Die Felder wurden vermint. Gründe gibt es in den Augen der Verantwortlichen genug. Unsittliches Benehmen mit einem folgenschweren Exodus im Nachgang. Die, die noch geblieben sind, haben Angst oder müssen Erniedrigungen unmenschlichen Ausmaßes ertragen. Khandan ist noch da. Perwana ist verschwunden. Keiner weiß, wo sie ist. Geschweige denn, ob sie es geschafft hat. Geschafft hat, dem Höllenschlund ihres Martyriums zu entkommen. Aussichten auf Nachricht hat Khandan keine. Doch sie hat ihre Erinnerungen. An die Schwester, die Freundin, die mutige Rebellin, die ihr einen Funken Lebenswillen dalässt.

Bachtyar Ali übertrifft sich mit „Perwanas Abend“ selbst. So blütenreich die Erzählung um den Freiheitsdrang der beiden Schwestern ist, so düster sieht ihr Leben aus. Hin- und hergerissen von der Sprachgewalt liest man sich in einen Rausch, der einem Derwischtanz nahekommt. Man schüttelt den Kopf, fiebert Nachrichten von Perwana mindestens genauso entgegen wie ihre Schwester und ist geschockt vom religiösen Fieberwahn der Bewohner der Stadt. Wenn so der Lesespätsommer aussieht, möge es niemals Herbst werden!

Memed III – Das Reich der vierzig Augen

Auch Helden haben das Recht auf Ruhe, Erholung und vor allem das Glück. Jahrelang ist Memed, der Falke durch die Weiten seiner Heimat getrieben worden. Manchmal trieb er Horden von Schurken vor sich her. Doch immer war er auf der Flucht vor der Obrigkeit, der er seit jeher ein Dorn im Auge war. Lag ein Unrecht in der Luft, und so mancher Landbesitzer nahm es mit dem selbst verfassten Recht nicht immer noch genau, konnte man davon ausgehen, dass der Falke heranschwebt, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Doch diese Zeiten sollen nun endgültig vorbei sein.

Ali Safa Bey ist tot. Gerächt durch Memed, den Falken. Der harte und zähe Kampf für die Gerechtigkeit hat sich schlussendlich gelohnt. Wer den Namen Memed ausspricht, bekommt glänzende Augen und zaubert ein Lächeln in die Gesichter der Zuhörer, wenn er von dessen Heldentaten erzählt. Doch der Ruhm hat auch eine dunkle Seite. Denn Memed ist immer noch ein freier Mann. Den Stadtherren liegt viel daran Memed den Garaus zu machen und dieser Legende den Dolchstoß zu versetzen.

Memed ist müde vom Kampf. Seyran ist die einzig, für die er da sein möchte. Ihre Schönheit wird in seinen Augen niemals verblühen. Doch Farouk, der Hauptmann und Ali die Echse sind ihm auf den Fersen. Sie ziehen durchs Land und suchen nach Memed. Sie verhören jeden, der ihren Weg kreuzt. Wo ist Memed? Wer hat ihn gesehen? Wer hat ihm geholfen? Das Land wird übersät mit Hass und Misstrauen. Memed muss einmal mehr auf der Hut sein und um sein Leben fürchten. Denn nicht nur Häuser und Wände haben Ohren und Augen. Das ganze Land ist vom Virus der Intrige erfasst.

Yaşar Kemal führt zum dritten (und zum Glück nicht letzten) Mal den Leser in eine Zeit, in ein Land, das so einzigartig von Leid und Hoffnung geprägt ist wie kaum ein anderes. Das Flirren der Hitze, die Sonnenstrahlen, die vom kargen Land wie Eindringlinge zurückgeworfen werden, die unstillbare Sehnsucht nach Frieden und Ruhe schnüren dem Leser die Kehle zu. Ein Abenteuerroman, der nur in der Reihenfolge der Memed-Saga an dritter Stelle steht, ansonsten aber wie alle Bücher dieser Reihe gleichwertig den ersten Platz belegt.

Über siebenhundert Seiten, die an Spannung nicht zu überbieten sind. Nach langer Zeit ist der dritte Teil endlich wieder erhältlich. Wer Abenteuer in fremden Ländern aus fernen Zeiten liebt, kommt hier voll auf seine Kosten.