Archiv der Kategorie: Bosporusiade

Bahnhöfe der Welt

Barcelona, Bozen, Besewitz – eine Metropole, eine Stadt, ein fast vergessener Ort. Sie alle haben eines gemeinsam: Einen Bahnhof. Während in Barcelona am Frankreich-Bahnhof, Estació de França, mehrere Züge im Stundentakt das imposante Bauwerk verlassen, hält in Besewitz am Naturschutzpark Darß schon seit Langem kein Zug mehr. Gäste gibt es immer noch, da hier Ferienwohnungen entstanden sind. So unterschiedlich die Reisziele auf dieser Welt sind, so unterschiedlich sind die ersten Gebäude einer Stadt, eines Ortes.

Antwerpens Bahnhof ist wegen seiner opulenten Architektur sicherlich ein Augenschmaus. Im Gare de Lyon in Paris kommt zum visuellen Erlebnis noch das lukullische hinzu. Im Restaurant „Le Train Bleu“ wird die gute alte Zeit in die Gegenwart transformiert. Die Decken sind mit nostalgischen Malereien der anzufahrenden Destinationen verziert. Das im rasenden Tempo bedienende Personal ist ein weiteres Highlight.

Wer in Barancas, Mexiko auf den Zug wartet, kommt schnell mit vielen Leuten in Kontakt. Hier trifft man sich wie andersorten auf dem Markt, und da es nur einen Personenzug gibt, ist der Fahrplan mehr als übersichtlich.

Martin Werner schafft es mit wenigen Worten und beeindruckenden Bildern eine Welt darzustellen, die sich jeder vorstellen kann. Denn jeder ist in seinem Leben schon einmal mit dem Zug gefahren. Wer tatsächlich noch nie mit der Bahn unterwegs war, hat es zumindest zum Einkaufen schon mal in einen Bahn hof geschafft. Bestes Beispiel dafür: Der Leipziger Hauptbahnhof. Einst aus zwei Bahnhöfen entstanden, war er jahrzehntelang der größte Kopfbahnhof weit und breit. Momentan sind noch etwas über zwanzig Gleise in Betrieb. Als Einkaufsmeile – und das kann man durchaus wörtlich nehmen: Auf drei Etagen gibt es vom Reisemagazin bis zum Donut wirklich alles hier zu kaufen – ist wider Erwarten der Bahnhof mehr Bummelpfad als Abfahrts- und Ankunftsort. Von Brisbane und Istanbul über Taipeh und Peking bis nach Garub in Namibia und dem U-Bahnhof am World Trade Center – hier geht jedem Bahnfreund das Herz auf.

Wer sich bisher nicht so recht für die Schienenhaltestellen begeistern konnte, wird schon beim ersten Durchblättern Schnappatmung bekommen. Originelle Ein-, Drauf- und Ansichten, detaillierte Raffinessen und die überbordende Vielfalt der gezeigten Bahnhöfe rund um den Globus faszinieren jeden, der sich an Architektur im zügigen Zeitalter an Schönheit erfreuen kann.

Bauhaus – Ein fotografische Weltreise

Wenn große Jubiläen anstehen, Jahrestage spricht man oft davon, dass diese ihre Schatten vorauswerfen. 2019 wird 100 Jahre Bauhaus gefeiert. Weimar, Dessau, Berlin – überall wird man dieses nur auf den ersten Blick schlichten und funktionalen Stils gedenken. Doch von Schatten ist da nichts zu sehen. Vielmehr erhellen die Strahlen der Vergangenheit das Jetzt und Morgen. Und so präsentier sich auch dieses Buch. Schon das Titelbild lässt eine Bauhaus-Schöpfung (Casablanca) im strahlenden Sonnenlicht des Maghreb den Leser und Betrachter erahnen, was auf den folgenden 240 Seiten auf ihn zukommt.

Und das ist eine ganze Menge! Bauhaus wird allgemeinhin als originär deutscher Baustil angesehen. Außerhalb Deutschlands war dieser Stil aber mindestens genauso anerkannt und vor allem beliebt. Was daran lag, dass viele Protagonisten ab einer bestimmten Zeit in Deutschland nicht mehr arbeiten konnten, die meisten nicht mehr durften.

Diese fotografische Weltreise führt den Interessierten an Orte, die er vielleicht schon mal besucht hat. Und dann ist im Rausch der Gefühle und Eindrücke so mancher Bauhaus-Edelstein untergegangen. Von Indien über Libanon, von Afghanistan (leider schwer beschädigt) bis Burundi – Bauhaus ist überall. Und damit ist nicht die Baumarktkette gemeint, die sind in weniger Ländern vertreten. Kambodscha, Kuba, Indonesien, Guatemala – Fotograf Jean Molitor ist ganz schön rumgekommen, um diesem Bildband den Stempel Weltkunst aufzudrücken. Die erklärenden Texte von Kaija Voss ordnen jedes noch so kleine Detail, jedes Element, das Bauhaus so unverkennbar macht, wird beschrieben.

Wer also demnächst durch Rostock oder Phnom Penh, Hamburg oder Chavigny, durch Weißensee oder Bukavu spaziert, wird garantiert seine Augen offenhalten, um bloß nicht wieder Erinnerungen an die Heimat zu verpassen. Oder man beschreitet den umgekehrten Weg. Alang, Udaipur, Quetzaltenango besuchen, um das Bauhaus im besonderen Licht der Ferne auf sich wirken zu lassen.

Endlich mal eine Prachtband, der einem nicht das Blut in den Oberschenkeln abschnürt. Die Motivauswahl ist exzellent, die Stimmung der Szene wird so eingefangen wie sie wirklich ist. Bauhaus wird hundert – jeder, der jetzt anfängt ein weiteres Buch über dieses außergewöhnliche Jubiläum zu schreiben, muss mit dem Scheitern seines Projektes rechnen. Es geht kaum besser!

Von Istanbul nach Hakkari

Von Istanbul nach wohin? Hakkari? Wo ist das denn? Und schon zappelt man am Haken! Die Neugier ist geweckt. Man nimmt das Buch, blättert ein wenig darin herum und … ist hin und weg. Eine literarische Rundreise vom Bosporus im Nordwesten in den tiefen Südosten Anatoliens, dorthin, wo Touristen die goldenen Fünf-Sterne-Armaturen gegen das Abenteuer eintauschen.

Das besondere an diesem Buch ist die lange Reise, die nicht nach Autoren oder Themen gegliedert ist, sondern der Reiseroute folgt. Klar, Startpunkt ist im Schmelztiegel Istanbul, der seit Jahrhunderten, ach was Jahrtausenden nämlich genau das ist. Hier treffen sich Menschen aus aller Welt, vermischen ihre mitgebrachte Kultur mit der hier vorherrschenden und kreieren am laufenden Band den Fortschritt, den so viele fürchten.

Es wäre frevelhaft eine einzelne Geschichte hervorzuheben. Wie etwa die von Elvan, der nach dem Puffbesuch im Hamam seinen Schlüssel verliert. Ganz ehrlich, man müsste doch annehmen, dass der Schlüssel an einer anderen Stelle in der Stadt Bursa abhandenkommt, oder?! Und so streift man mit Yasar Kemal durch Istanbul, mit Tarik Dursun K. durch Izmir, erkundet mit Orhan Duru in Bodrum das Geheimnis einer riesigen Flasche und wandert mit Migirdic Margosyan das Heidenviertel von Diyarbakir.

Jede Geschichte ist ein Kleinod, das behutsam gelesen werden will. Alle Geschichten stammen aus einer Türkei, die – nach Atatürks Willen – sich dem Westen öffnet. Der Islam ist noch allgegenwärtig, aber keine Staatsreligion. Frauen sind bereits gleichberechtigt, die Schrift lateinischen Ursprungs. So wollte der große Reformer sein Land auf den nächsten Schritt vorbereiten und einschwören. Das ist ein knappes Jahrhundert her.

In dieser Zeit hat sich viel getan. Davon berichten die Autoren in diesem Buch. Mal launisch, mal euphorisch, mal heimatverbunden, mal melancholisch, doch immer mit der Liebe in der Schreibhand. So facettenreich der Ausgangspunkt der Reise, so bunt sind die Geschichten unterwegs. Ein Kaleidoskop der Vielfalt.

Seelenfrieden

So intensiv wurde Istanbul noch nie beschrieben! Mümtaz ist Istanbuler. Er ist es mit dem ganzen Herzen. Ein Mensch, den man gern um sich hat, weil er so warmherzig ist. Grüblerisch, sensibel, leidenschaftlich – wo wie Istanbul. Mümtaz ist Istanbul. Er leidet, wenn er leiden muss. Er lacht, wenn er lachen muss.

Und er lächelt als er Nuran trifft. Auch sie lächelt. Und für einen Sommer lang trägt jeder Tag, jede Minute, jeder Sonnenstrahl das Lächeln in sich, das Mümtaz und Nuran füreinander haben. Mümtaz schwärmt Nuran von Kristallen der Melodien vor, und sie auf ihn reflektieren. So blumig, so bildhaft, so farbenprächtig ist das Leben für ihn im Moment. Er ist erfahren genug zu wissen, dass es nicht immer so bleiben wird.

Wir sind in den 30er Jahren in Istanbul. Die Türkei hat sich in der jüngeren Vergangenheit rapide verändert und geöffnet. Mümtaz schwärmt von Wagner und Debussy gleichermaßen wie von einheimischen Musikern. Sanft greift er Nurans Hand und zeigt ihr Istanbul, die die große Stadt nur von Weitem kennt.

Nuran steht als geschiedene Frau immer noch bzw. wieder unter der Fuchtel ihrer Mutter. Frei sein ist anders. Doch Nuran sieht in Mümtaz mehr als nur einen Freund, er ist ihr Geliebter. Auch wenn sie es sich nicht von vornherein eingestehen will.

Die Leidenschaft, die Mümtaz und Nuran füreinander empfinden, ist der Nährboden für Suats Hass. Er will Nuran. Und er will nicht, dass es ein Mümtaz und Nuran gibt. Und er verbeißt sich in den Gedanken, die beiden Liebenden auseinander zu bringen.

Mümtaz, Nuran und Suat sind wie drei Säulen eines Lebens: Freude und Angst, Liebe und Hass, Vergangenheit und Zukunft. Wo Licht ist, ist auch Schatten. So hell die Liebe strahlt, so dunkel sind die Wolken der Verbitterung. Am anderen Ende des Mittelmeeres fallen schon die ersten faschistischen Bomben, während Istanbul aus dem Dunkel der Geschichte ins Hell der Moderne tritt. Kontinentaleuropa ist schon zerrissen – Istanbul und die Türkei versuchen gerade den Spalt zwischen Orient und Okzident zu kitten. Und mittendrin eine Liebesgeschichte, die exemplarisch wie keine andere für diese Zeit steht.

So kaltherzig, so grau, so unwirtlich die aktuelle in so manchen Augen erscheinen mag, so überbordend hoffnungsvoll, bunt und einladend ist Istanbul in den Worten von Ahmet Hamdi Tanpınar. Eine Liebeserklärung an Istanbul und das Leben, gleichzeitig die herzlichste Einladung an den Leser die gelesenen Zeilen hautnah zu erleben.

Atlas der Antike

Atlas der Antike

Ein Atlas ist ein Kartenwerk. Und Karten weisen den Weg. Beziehungsweise, sie wiesen den Weg. Heute benutzt ja kaum noch jemand (aus-)gedruckte Karten. Doch der Name Karte oder der Begriff Atlas sind noch gängige Begriffe. Und so ist der Titel „Atlas der Antike“ nicht zufällig gewählt. Zweieinhalbtausend Jahre Geschichte auf einhundertsechzig Seiten – da kommt schon einiges zusammen. Schon bei der Einordnung, was Antike eigentlich ist, welchen Zeitraum sie einnimmt, kommt so mancher, der im Geschichtsunterricht lieber den Fußboden betrachtete als dem Tafelbild zu folgen, ins Schwitzen. Ist halt verdammt lang her!

Holger Sonnabend ist allerdings ein Lehrer, schließlich ist er Prof. Dr., den man folgen sollte. Und dem man vor allem folgen kann. Zum Beispiel die Etrusker. Hat man schon mal gehört, Etrusker. Die wohnten doch in … ja, genau, Italien. Dort, wo heute die Toskana-Fraktion die schönste Zeit des Jahres verbringt. Die Etrusker sind so geheimnisvoll, dass ihre Erbe bis heute ungelöste Rätsel aufgibt. Sie hatten eine Schrift, die der Griechischen ähnelte. Aber entziffern kann man sie bis heute nicht vollständig. Sie waren ein hochentwickeltes und kulturell bedeutendes Volk. Sie schmiedeten Allianzen und wurden wieder aus diesen hinausgekämpft. Sie waren die Vorgänger der Römer. Und auf deren Prinzipien beruht heute das Zusammenleben der Welt.

Die Reise geht weiter über die Beziehungen der Griechen und Perser. Wenn man sich die heutige Welt betrachtet, ist der Kampf immer noch im Gange. Wenn auch mit einer anderen Sichtweise – Persien / Iran gilt als einer der einträglichsten Märkte weltweit und Griechenland … naja, wer dort investiert, ist verdammt risikoreich. Alexander der Große, die Römer, Monarchien und Sklavenhaltergesellschaft – die Reise geht quer durch die Geschichte. Immer mit Rückfahrticket.

Anschauliche Übersichtskarten geben dem Leser einen eindrucksvollen Einblick in den Aufbau von Ländern und Städten. Zahlreiche Abbildungen von Gemälden, Stichen und Reliefs veranschaulichen exakt die Beschreibungen der Zeit.

Was dieses Buch so einzigartig, so benutzenswert macht, ist, dass es nicht wie ein Lexikon immer brav der Zeitlinie folgt, sondern, dass einzelne Wissenschaftsgebiete einzeln beleuchtet werden. Fachgebiete wie Politik, Kultur und Medizin ergeben für den Leser ein Komplettbild dessen, was uns in der Schule oft zu langweilen begann. Der Autor schafft es mit einfachen Worten die Begeisterung, die einst unsere Lehrer dazu bewegten Geschichte zu lehren im Leser zu wecken. Wichtige Ereignisse werden in farbigen Kästen hervorgehoben, ohne dabei die Haupttexte in den Hintergrund zu rücken. Ein echter Wegweiser durch die Jahrtausende!

Lesereise Türkei

Lesereise Türkei

Um Istanbul (touristisch) zu erobern, sollte man gestärkt in den Tag starten. Überhaupt sollte jeder Urlaubstag mit einem „guten Frühstück“ beginnen. Und Christiane Schlötzer beginnt ihre „Lesereise Türkei“ in Istanbul mit einem kahvaltı. Käse, Oliven, Honig sind nur drei Zutaten für einen idealen Start in den Tag. Und genauso gehaltvoll wie das Frühstück – in Istanbul kann sich dieses durchaus auch gern mal fast über den gesamten Tag hinziehen – sind auch die Schilderungen der Autorin. Wer da nicht Appetit auf mehr bekommt, wird im „Übermorgenland“ verhungern…

Wenn „newsweek“ Istanbul als die coolste Stadt der Welt bezeichnet, so findet Christiane Schlötzer sofort und zahlreich Gegenargumente. Eines ist sicher: In Istanbul tut sich was! Kaum eine andere Stadt auf der Welt verändert sich so rasend schnell wie die Zwei-Kontinente-Stadt. Auf der einen Seite der Boom der exklusiven Bars und hippen Lokale, auf der anderen Seite die ursprünglichen Viertel, die man noch (noch!) besichtigen kann. Tarlabaşi ist so ein Viertel. Auf den ersten Blick heruntergekommen, sozialer Vorhof zur Hölle, Ausstiegschancen gleich Null. Wer hier ist, geht nur selten wieder weg. Aber nicht aus nostalgischen Gründen, sondern wegen mangelnder Angebote. Doch dieses Viertel soll bald einem Prunkviertel weichen. Schanzelize. So soll es heißen, die türkische Version von Champs Elysées. Bürotürme so kahl und clean wie überall auf der Welt sollen den Aufstieg und Reichtum der Stadt symbolisieren. Und genau hier trifft die Autorin Menschen, die es mit dem harten Leben in der „coolsten Stadt der Welt“ tagein tagaus aufnehmen. Aus allem, was sie finden, machen sie die eine oder andere Lira. Wohlwollend verzichtet sie dabei aber auf die üblichen Klischees von motivierten Menschen, die von einem besseren Leben träumen. Resigniert haben sie nicht. Aber sie kämpfen jeden Tag für ihr Auskommen und bald schon um ihr Viertel.

Die Türkei wurde oft und auch lange von großen Männern regiert. Einer hat die Türkei in die Moderne geführt: Kemal Atatürk. Seit Anfang des Jahrtausends hat ein anderer Mann die Macht, der sich gern als großer Mann sieht. Recep Tayyip Erdoğan wird geliebt und gehasst. Innen wie außen. Dazwischen gibt es nichts. Die, die im London des Orients genauso viel Geld scheffeln wollen wie an der Themse lieben ihn. Die, die das New York des Orients ausmachen sind in der Mehrheit für ihn. Die, die das (und bisher wird es nicht so genannt) demokratische Istanbul sich wünschen, hassen ihn. Die Unruhen und Eskapaden auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park sind noch nicht verhallt, der Präsident kennt trotzdem kein Erbarmen. Mit aller Macht schützt er sich und sein Gefolge gegen jede Art von Widerstand. Da werden soziale Netzwerke gekappt, Demonstranten niedergeknüppelt, Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht. Als Tourist bekommt man nur in Abständen die Veränderungen mit.

Christiane Schlötzer spricht mit Aktivisten vom Gezi-Park, saugt „den Rest der Türkei“ in sich auf, schlürft Kaffee, spricht mit Opfern eines Grubenunglücks und zeigt die miserablen Sicherheitsvorkehrungen auf, die nicht minder schlecht wie die Lehren aus dem Unglück sind. Auch die Verbindungen Deutschlands zum Gemetzel an den Armeniern, das AKP-Chef Erdoğan immer noch als Völkermord anerkennt, findet Eingang ins Buch.

Die „Lesereise Türkei“ ist kein Buch mit Ratschlägen á la „das müssen Sie gesehen haben“. Es ist vielmehr wie in einem Kaffeehaus: Man sitzt beisammen und unterhält sich. Leise klingen im Hintergrund orientalische (oft auch moderner Türk-Pop) Melodien. Die Autorin lebte lange in Istanbul. Sie weiß wie es ist hier zu leben, kennt die Menschen und ihre Kultur. Und nun auch der Leser. Zumindest besser als zuvor.

Gebrauchsanweisung für Istanbul

Gebrauchsanweisung Istanbul

„My kind of a town“, meinte einst Al Capone über Chicago. Hier konnte er zeitweise schalten und walten wie er wollte. Und Istanbul? Was sagt der geneigte Besucher über diese Stadt? „My kind of a cultural clash“. Hier stoßen die urbanen Lebensentwürfe wie Kontinentalplatten aufeinander. Nicht so langsam – ganz im Gegenteil – jedoch nicht weniger eindrucksvoll. Und hier kann der Gast schalten und walten wie er will. Wenn er sich auskennt! Zur perfekten Reisevorbereitung gehört neben dem unverzichtbaren Reisebuch auch ein wenig wohl formulierte Literatur. Und die liefert Kai Strittmatter. Nun ist Kai Strittmatter nicht nach Istanbul gekommen, weil er hier schon immer mal Urlaub machen wollte. Er wollte, nein er durfte als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung von Peking nach Istanbul wechseln. Der Unterschied zwischen „normalem Touristen“ und dem Autor ist nicht besonders groß. Beide wissen wo ihr Haus wohnt (sorry, aber der Gag musste jetzt einfach sein), der Tourist hat sein Hotel, Kai Strittmatter seine Wohnung (mit Bosporusblick und allem Drum und Dran). Beide wissen, was sie hier zu tun haben, sich umschauen, aufsaugen und berichten. Und beide kommen anfangs nicht aus dem Staunen raus! Wo „normale Touristen“ nicht mehr als ein „Boah“ herausbekommen, arbeitet sich Kai Strittmatter sanft und wortstark durch die einzelnen Kulturschichten. Für den Leser heißt das: Achtung Suchtgefahr! Die Intensität der Worte lässt an der Wahl des Urlaubsortes, sofern er denn nicht Istanbul heißt, zweifeln. Erste Umbuchgedanken kommen auf. Vielleicht doch eher Istanbul statt, Westerwald? Nicht unbedingt. Istanbul rennt nicht weg. Die Stadt gehört zu den Ältesten der Welt. Aber den Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, wird verdammt schwer!

Die kurzen Kapitel machen das Buch zu eine echten Lese-Dauerbrenner. Kurz und knapp taucht man immer tiefer in die Seele der Stadt ein. Kurz unterbrochen von farbenprächtigen Absätzen, die einem Istanbul auf Gefühlsebene näher bringen. Mit eines der längsten Kapitel trägt den Titel „Auskosten“. Na klar, was sonst?! Istanbul sollte man in vollen Zügen genießen. Sich dem Rhythmus der Stadt anpassen. Nix für Frühaufsteher! Keyf nennt man das hier. Eine Art Müßiggang mit Zusatzleistungen. Laissez-faire mit Würde.

Kai Strittmatters Texte lesen sich wie ein Roman. Der Ich-Erzähler verzichtet auf das Links-Und-Rechts-Verweisen, was man gesehen haben muss und was nicht so sehr von Bedeutung ist (das gibt’s tatsächlich in Istanbul). Vielmehr ist die Gebrauchsanweisung ein echtes Handbuch, um sich nicht allzu sehr als Fremder im Millionenmoloch Istanbul zu fühlen. Ausflüge gibt es nur in die Geschichte. Alle anderen Trips sind wichtiger Bestandteil des Lebens am Bosporus. Kai Strittmatter geht Vorurteilen nach, belegt oder widerlegt sie, und wenn sie stimmen, forscht er nach woher sie kommen. Wer noch keinen Reisebegleiter für Istanbul gefunden hat: Bitte sehr, hier ist er! Vierundzwanzig Stunden verfügbar, eloquent, ratgebend und unerlässlich.

City Impressions Istanbul

Istanbul City impressions

Während andere Städte sich damit brüsten die Teilung überstanden zu haben, verbucht Istanbul auf Grund dieser Tatsache einen nicht enden wollenden Strom an Besuchern. Denn die Teilung ist keine politische, sondern eine geografische. Europa und Asien – Fusion food für die Sinne. Und das zeigt dieser einmalige Prachtband auf über 300 Seiten.

Wer jetzt meint, dass Bernd Rücker, der hinter diesem Buch steht, einfach mal drauf losgelaufen ist und ein paar hübsche Urlaubsbilder zwischen zwei Buchrücken gepresst hat, liegt so falsch wie alle, die meinen schon alles in und von Istanbul gesehen zu haben. Denn das elegante Spiel von Licht und Schatten sind seine Welt, und die der Stadt am Bosporus. Wenn die Bäume ihren erfrischenden Schatten auf Jahrhunderte alte Gemäuer werfen, wird es Zeit das Auge zu schärfen. Wenn der Leben spendende Feuerball am Himmelszelt starre Säulen zu gigantischen Zeigern über die Mauern der Stadt kreisen lässt, ist es Zeit die Phantasie spielen zu lassen. Wenn hoch am Himmel die Fauna ihre Kunststücke vor himmelblauer Kulisse vollführt, ist es fast schon zu schade die Zeit mit Kamera rausholen, scharf stellen und abdrücken zu vergeuden. Bernd Rücker war schneller und fasziniert Istanbul-Süchtige wie –Kenner gleichermaßen.

Doch Istanbul ist nicht nur die Heimstätte von Hagia Sophia, Blauer Moschee und einer der beeindruckendsten Brücken der Welt. Es ist vor allem die Mischung aus altehrwürdiger Architektur, liebevoll sich präsentierenden Wohnhäusern und wahrhaft magischen Momenten, die – im richtigen Licht – jede Minute oder in diesem Fall jede Buchseite zum Erlebnis machen.

Was so leicht aussieht, sind ausgeklügelte Bildkompositionen, die den Betrachter sofort in ihren Bann ziehen. Mit der richtigen Optik ragen die Türme der Moscheen nicht kerzengerade in den Himmel, sondern weisen auf einen zentralen Punkt. Schon staatstragende Nachtstimmung bedarf keiner Textzeile: Das brodelnde Nachtleben erwacht, während die Bauten sich in Schweigen hüllen. Sie tanken Kraft um tags darauf wieder in voller Pracht zum Verweilen einzuladen.

Die Reihe City impressions verführt nicht nur mit den großformatigen, eindrucksvollen Bildern. Jeder Band – und so auch das Buch über Istanbul – hält kleine Alltagsgeschichten, die, obwohl fiktional, so echt wirken, dass sie jedem hier passieren können. Keine Dramen, die im Kino für Furore sorgen. Nein, es sind wahr erscheinende Geschichten, die die Protagonisten die Stadt mit anderen Augen sehen lassen. Und genau das passiert auch mit dem Leser! Istanbul zwischen Verfall und Boulevard der Eitelkeiten. Prallgefüllte Erinnerungsschatten und lichtstarke Ausblicke entblättern sich vor den Augen des Betrachters. Der Istanbul-Bildband der City-impressions-Reihe ist das erste Museum, das man mit geneigtem Kopf betritt und hoch erhobenen Hauptes verlässt. Man lehnt sich zurück und wünschte man wäre schon da.

Die endlose Stadt

Die endlose Stadt

Wo nichts ist, war nie was. Wo was war, sieht man. Was es war, versucht Holle mit der Kamera einzufangen. Sie ist Fotografin und lebt in Istanbul. Hier hat sie auch Celal kennengelernt, was sie nicht davon abhält – wie kann sich nicht erklären warum – Dr. Christoph Wanka interessant zu finden. Anziehend findet sie ihn nicht. Denn er lebt in einer anderen Welt. Vorstand. Die Kunst ist für ihn nicht Lebenselixier (wie bei Holle), sondern Gegenstand seines Status. Nicht aus Schwäche, nicht aus Resignation, sondern aus der Tatsache heraus, dass es in ihre Konzept passt, willigt sie ein, dass Wanka nach langem Drängen ihr einen Aufenthalt in Mumbai spendiert. Beide Städte sind vergleichbar und auch wieder nicht. Annähernd die gleiche Einwohnerzahl ist Istanbul mehr als achtmal so groß wie der indische Moloch. Wo eben noch etwas war, ist hier schon wieder etwas anderes. Anders als in Istanbul sind die Zeichen des Dagewesenen schnell verblasst. Holle verlässt Mumbai wieder Richtung Istanbul. Ihre Wohnung in Mumbai übernimmt Theresa. Sie ist Journalistin. Auch eine Künstlerin, aber eine, die im Korsett der Fakten und Deadlines gefangen ist.

Auch Theresa begegnet Dr. Wanka. Im Film wäre die Rolle des Wanka eine Nebenrolle: Was im Englischen als „supporting role“ bezeichnet wird. Eine Titulierung, die dem Charakter näher kommt. Die Namensähnlichkeit mit Willy Wonka aus „Charlie und die Schokoladenfabrik“ ist beabsichtigt oder nicht. Im Film ist er die Antriebsfeder, in „Die endlose Stadt“ ist Wanka / Wonka Vehikel des Fortschritts. Beide Frauen begegnen ihm, ändern ihr Leben, folgen ihm und sagen sich von ihm los.

Istanbul und Mumbai sind der Ulla Lenzes Nährboden für die Schicksale zweier Frauen. Welche der beiden Städte die „endlose Stadt“ ist, bleibt dem Leser überlassen.  Der Roman ist keine leichte Kost für „mal eben zwischendurch“. Dafür sind die Charaktere zu ausgefeilt, zu komplex, zu streitbar. Die Abkehr vom Materialismus und der Zwang, sich mit der Bezahlung der Arbeit einen Lebensentwurf leisten zu müssen, wirft zahlreiche Konflikte auf. Ob lokal oder global, ist einerlei. Die Beschäftigung mit den Problemen lässt viele scheitern. Die Protagonistinnen sind sich noch nicht sicher, ob sie scheitern oder weitersuchen.

Unter dem Asphalt

Unter dem Asphalt

„Schatz, ich gehe mal ins Theater.“ „Gut, bringst Du mir bitte ein Glas Gurken mit?!“ – Was sich nach Witzparade im Ersten anhört, kann ich Neapel durchaus Realität sein. Denn durch die vielen Vulkanausbrüche baute man auf den Trümmern einfach die neue Stadtgeneration wieder auf. Und von so mancher Wohnung gelangt man direkt in ein römisches Theater.

Paris bietet schon seit Jahren Rundgänge durch die Katakomben der Stadt an. Schaurige Geschichten, Türme aus Schädeln und Gebeinen, stimmungsvolles Licht – auch unter dem Eiffelturm gibt’s Vieles zu entdecken. Die Location ist so angesagt, dass bis vor wenigen Jahren dort regelmäßig Underground-Parties stattfanden. Bis die Stadt die Eingänge verschweißte, zumauerte, anonymisierte.

Berlin ist seit 1997 dank des Vereins Berliner Unterwelten wieder eine geteilte Stadt: Oberirdisch und unterirdisch. Eine Viertelmillion Besucher durchforsten jedes Jahr Bunkeranlagen und einst geheime Gänge. Angelegt um vor den Bomben der Alliierten sicher zu sein (was ein Trugschluss war), sind die Agentengänge, Luftschutzbunker und anderen unterirdischen Anlagen heute eine echte Touristenattraktion.

Leoni Hellmayr hat sich die Erde von unten betrachtet. Sie traf bei ihren Recherchen auf übel riechende Rinnsale, auf prächtige Bauten und geschichtenerzählende Räume. Wer heutzutage eine Stadt, eine Metropole besucht, kratzt nur an der Oberfläche. Sämtliche Attraktionen, die man gesehen haben muss, liegen vor unseren Augen offen da. Wer in eine Stadt eintauchen will, muss sich in die Niederungen des urbanen Raumes begeben. Hier lauern an jeder Ecke Geschichten, die noch (wieder-)entdeckt werden wollen. Von Lima bis Tokio, von Moskau bis Neapel, von Istanbul bis Montreal.

Dem Leser wird schnell klar, dass er auf seinen Reisen das Eine oder Andere verpasst hat. Was bisher nur als Filmkulisse einigen bekannt war, wie die Zisternen von Istanbul in „007 – Liebesgrüße aus Moskau“, wird hier greifbar. Als kenntnisreicher Begleitband zu einem Reiseband ist dieses Buch beim nächsten Urlaub ein unverzichtbares Utensil!