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Wien Schmäh Hauptstadt capitol

Wiener Zuckerl

Es gibt schlimmere Orte in Wien als den Naschmarkt, um als Inspector nach dem rechten zu sehen. Im Alten Wien zumindest. Inspector Nechyba sieht das Elend auf den Straßen, weiß um die kleinen Scherereien – mit dem Stankowski zum Beispiel – und er weiß ganz genau wie er hier jeden zu nehmen hat. Und die Anderen kennen ihren übergewichtigen Bullen ebenso aus dem ff. Geben und Nehmen – leben und leben lassen. Nicht ganz. Herr im ring ist immer und unanfechtbar Nechyba. Man kennt ihn aus zahlreichen Krimis. Doch dieses Mal hat Autor Gerhard Loibelsberger die kleinen – manchmal fiesen – Geschichten in den Fokus seines Buches gestellt.

Zuckersüß und bitterböse. Und wie immer mit viel Wiener Schmäh. Keiner geht ungestraft päulisieren – ein wunderbares Wort, wenn es nicht tagtäglich hört und nur als gast in der lebenswertesten Stadt der Welt ist. Da nimmt man auch mal ein Beidl als Schimpfwort in Kauf. Doch Vorsicht vor den Schastrommeln!

Im weiteren Verlauf der heiter morbiden Geschichten rückt die Gegenwart immer mehr in den Fokus des Lesers. Nechyba ist hier schon längst passé. Doch das Verbrechen noch lange nicht. Echt oder ausgedacht spielt hier schon lange keine rolle mehr. Man ist fest im Würgegriff der Wiener spannungsgeladenen G’schichten. Die Kiberei ist nicht weit, wenn wieder einmal einer über die Stränge geschlagen hat. Fast ist man geneigt ob des charmanten Wiener Slangs dem Einen oder Anderen sein Ansinnen und Tun zu verzeihen. Aber nur fast. Denn Verbrecher bleibt nun mal Verbrecher.

Wer der den Wienern nicht nur angedichteten Todessehnsucht etwas abgewinnen kann und True Crime gepaart mit phantasievoller Vielfalt mit offenen Armen entgegenläuft, der wird diese „Wiener Zuckerl“ im Nu zerbeißen und gar nicht erst warten bis sie langsam auf der Zunge zergehen. Bissfester und zartschmelzender Humor mit einer Brise handfester Reibereien und ganz mieser Typen, denen man bei Einbruch (hihi) der Dunkelheit nicht begegnen möchte.

Das Zuckerlglas auf dem Cover ist vielleicht irreführend, aber je öfter man die Seiten umblättert umso mehr versteht man den hintersinnigen Humor. Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen? Und wenn noch nicht, wollen Sie das wirklich? Na klar doch! Denn mit diesem Buch ist man auf wirklich alles vorbereitet im Wien der dunklen Gassen und Gestalten …

Sonst wäre Wien nicht Wien

Der Titel fällt einem sofort ins Auge: „Sonst wäre Wien nicht Wien“. Wie viele Großstädte hat Wien seinen unvergleichbaren Glanz Mäzenen, Visionären und Machthabern zu verdanken. Deren Vorstellungen sind bis heute sichtbar. Was wäre Wien ohne Kunst- und Naturhistorisches Museum? Oder ohne die Hofburg? Das sind die offensichtlichen Hinterlassenschaften der Habsburger. Doch es sind die scheinbar kleinen Dinge, die Wien letztendlich immer wieder zu einer der lebenswertesten Städte der Welt machen.

Scheinbar klein ist im Falle Wiens immer mit überall sichtbar gleichzusetzen. Es sind beispielsweise die Parkanlagen, die den Besucher – aber auch und vor allem die Wiener selbst – zum Durchatmen, zum Verweilen, zum sich Entfalten, einladen. Gerade Sichtachsen, klare Linien – hier hat Kaiser Joseph II. seine Finger im Spiel gehabt. Dem lag das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung am Herzen. Auch wenn die Spitäler der Stadt heute andere Namen tragen, so waren sie einmal ihm gewidmet, weil er sich in Auftrag gab. Architektonische Perlen, die von Außen innehalten lassen. Und von Innen … na ja, den Heilungsprozess beschleunigen werden sie nicht.

Autor Norbert Philipp schlendert nicht durch Wien, er durchforstet die österreichische Metropole mit der Lupe und seziert ihre Wurzeln bis in die kleinste Faser. Dort, wo der Name bis heute Programm ist, ist nicht immer das drin, was draußen drauf steht. Die Aussichtswarte im Türkenschanzpark trägt den Namen Metternich, was nun eindeutig auf den Fürsten hinweist … ha, denkste! Die Dame (!) hinter Gebäude und Namen war zwar eine Metternich, doch sie – die „Gschaftlhuberin“ – selbst wollte lieber im Hintergrund wirken und Lobbyarbeit betreiben, sprich Geld sammeln für geplante Bauvorhaben.

Es ist ein Fest mit diesem Buch durch Wien zu flanieren. Einem selbst bekannte Orte bekommen eine neue Bedeutung, wenn man die Geschichte dahinter versteht. Wasserläufe, ist doch wohl klar, dass die Wien niemals so durch die Stadt geflossen ist – das sieht man ja schon an der Uferbefestigung. Auch hier steht man nun auf der Brücke, sitzt auf einer Bank und schaut dem Flüsschen zu wie es sich zahm durch die Stadt windet. Beim Bummeln durch die Bezirke wird man immer wieder auf Namen und Gebäude treffen, die die Stadt prägten – die Geschichte(n) dahinter wird man mit diesem Buch wie selbstverständlich begreifen. Der lockere Schreibstil ist die einzig wahre Methode diese Geschichte einem wissensdurstigen Publikum nahezubringen. Ob nun der erste Besuch in Wien oder der zwanzigste – mit diesem Buch im Reisegepäck wird jeder Schritt zu einem besonderen Erlebnis.

Hier und anderswo

Man spürt es ab der ersten Seite, ach was, aber der ersten Zeile: Thomas Michael Glaw reist gern. Und oft. Und er kann viel erzählen. Nicht über das, was man sehen muss, was jedem früher oder später vor die Augen kommt, sondern über das, was man suchen muss und finden kann. Und vor allem über das, was zu beachten ist. Reiseimpressionen mit Lerneffekt. Doch so statisch sollte man dieses kleine Büchlein nicht angehen. Es ist eine Art Hilfestellung für Reisenovizen wie alte Hasen, die über diejenigen lachen, die Catania in Spanien oder Griechenland verorten (die gibt es wirklich! Und das nicht zu knapp!).

Hier sind sie also die gesammelten Impressionen (Auszüge davon) eines Reiselebens. Von München nach Wien im Flieger? Niemals. Im Zug reist man entspannter, und auch nicht viel länger, wenn man die Eincheckzeiten und die Fahrten zum und vom Flughafen einberechnet. Und mit der ÖBB sogar pünktlich, freundlicher … einfach entspannter. Reisen als Sinnesrausch im positiven Sinn. Denn auch eine Zugverspätung kann eine Reise in einen Rausch verwandeln – Stichwort Blutrausch.

Wiens erster Bezirk hat für ihn den Rausch der Vergangenheit gegen die Tristesse des Übers eingetauscht. Übervolle Straßen, übermäßig viele Verkäufer, die überteuerte Tickets verkaufen, überall nur Touristen, die überhaupt kein echtes Wien mehr ans Tageslicht kommen lassen. Dennoch sind Wien und seine Cafés immer noch berauschend. Es sind halt nur andere Cafés, wo man sich zur morgendlichen Stunde Gazetten und Braunen einverleiben mögen möchte.

Südspanien im Winter ist ein feuchtes Vergnügen. Manchmal auch ein feuchtfröhliches, wenn man der Sprache nicht mächtig ist und aus Versehen etwas bestellt, was einen übermäßig beansprucht.

Roma als Amor zu verstehen, fällt leicht, wenn man die Ewige Stadt einmal besucht hat. Oder mehrmals. Die Stadt für sich allein hat man niemals. Es sei denn, man besucht einen Friedhof. Doch auch da ist Achtsamkeit angeraten. Furbo und Pignolo können einem manchmal ordentlich auf die Nerven gehen oder gar die letzten Reste davon rauben. Der Eine mogelt sich durch (und kommt damit auch immer durch), der Andere ist ein Pedant, den man so in Italien gar nicht vermutet. Eine köstliche Charakterstudie des Autors.

„Hier und anderswo“ ist ein kurzweiliges Lesevergnügen für alle, die Bestätigung suchen und/oder vor der Entscheidung stehen in alle Himmelsrichtungen zu flüchten. Knigge-Fallen lauern überall (da ist es wieder, dieses „über“), nicht hineinzutappen, ist die Kunst. In diesem Büchlein die Fallen zu erkennen, sie umschiffen zu können, ist keine Kunst, es ist fast schon eine Pflicht.

Almost 2

Raus, raus, raus, raus – ich muss hier raus! So muss sich Wojciech Czaja gefühlt haben als er im Corona-Lockdown sich auf seine Vespa schwang und mit Verve seine Stadt Wien erkundete. Journalist ist er. Schwerpunkt Architektur. Auf einmal sah er Wien mit ganz anderen Augen. Dort war der Orient, dort ein verschlafenes Nest in den Bergen. Alles vor seiner Haustür. Die Kreativität der Bauherren inspirierte den Vespa-Piloten.

Und das nicht nur einmal. Band Zwei der Almost-Weltreise ist die konsequente Fortsetzung seiner Vespiaggio durch das lockdown-massenentkernte Wien.

Wer noch nie in Milwaukee war (Alice Cooper kommt von hier), nicht weiß wie es dort aussieht, der kann Czaja vollauf vertrauen. Er hat es in Meidling, in der Flurschützstraße entdeckt. Und Houston in Erdberg. Das Guggenheim in Favoriten. Und die Piazza di San Marco am Schmerlingplatz im Ersten.

Es sind Gebäude oder Details, die ihn als Weltreisenden an frühere Reisen erinnern. Er hält drauf zu, drückt ab und das Ergebnis regt ab und an zum Schmunzeln an, erstaunt aber nach jedem Umblättern aufs Neue. So groß die Welt ist, so nah ist sie auch. Und alles trifft sich nicht zwingend beim Heurigen im Speziellen, in Wien im Allgemeinen jedoch sehr wohl. Historisches, Modernes, Auffallendes, Typisches – wer die Augen offenhält, wie Wojciech Czaja, der nimmt jede Einschränkung des Aktionskreises in Kauf. Man muss in die Welt hinausfahren, um sie zu erkunden. Doch man muss nicht lang fliegen, um sie zu erkennen.

Dieses kleine Büchlein – mittlerweile sind es ja schon zwei – hilft die Sehnsucht nach dort hin und da hin am Leben zu erhalten. Und es zeigt, dass um die Ecke oft mehr zu sehen ist, als nur das lokal Typische. Mit ein bisschen Phantasie wird man selbst fündig.

Hans Becker O5

Eine geradlinige Biographie sieht anders aus: Am Ende des 19. Jahrhunderts in eine österreichische Adelsfamilie (allerdings ohne Pomp und Glanz) an der adriatischen Küste geboren. Royalist. Jurist. Künstler. Journalist. Wissenschaftler. Propagandaleiter für die Vaterländische Front. Einer der Ersten, die ins KZ deportiert wurden, nachdem die Nazis Österreich annektierten. Wieder in Freiheit beharrlicher Kampf gegen die Besatzer. Diplomatendienst in Südamerika. Ermordung. In Vergessenheit geraten.

Wer das nächste Mal Wien besucht, schaut am Stephansdom mal ganz genau hin. Neben dem Eingangsportal sieht man noch das O5 in einen der Steine geritzt. Wenn man es nicht sucht, findet man es auch nicht. Die 5 in O5 steht für den fünften Buchstaben im Alphabet, das E. Zusammen OE, ein Symbol für die Befreiung Österreichs vom braunen Terror. Im Gegensatz zum Rest der Welt, der unter dem Hassregime litt, erinnert aber nichts mehr an Hans Becker, der eine Woche vor Heiligabend im Jahr 1948 durch die Waffe in der Hand eines ukrainischstämmigen Querulanten ums Leben kam.

Der Journalist Erhard Stackl macht sich in seinem Buch auf Spurensuche. Diese Suche führte ihn nicht nur in Archive und zur Familie Beckers, sondern bis ans gegenüberliegende Ende der Welt. Seine Recherchen zur Person Hans Beckers sind von einer langen Suche und ausführlichen Ergebnissen geprägt. Sie führen den Leser in eine Zeit über die schon viel geschrieben wurde. Die Leben vieler führender Köpfe sind wie ein offenes Buch. Dieses Buch ist eine wahre Fundgrube an Neuentdeckungen.

Die Widerstandgruppe O5 war ein Sammelbecken für den Widerstand gegen Hitler. Hier engagierten sich Konservative, Linke, Künstler, Intellektuelle beseelt vom Kampf für ein freies Österreich. Ihr wichtigster Kopf – Hans Becker – ereilte das Schicksal, das so manch einer teilen musste: Er geriet in Vergessenheit.

Doch das ist nun Vergangenheit. Dank der vierhundert Seiten starken Biographie fällt das Licht der Erinnerung nun auf den Mann, der im Untergrund, teils im Hintergrund, Strippen zog, Aktionen plante, niemals aufgab. Die Jahre im Konzentrationslager konnten ihn nicht brechen. Im Gegenteil: Hier knüpfte er Kontakte und fand die Kraft, die ihm in der Zeit in relativer Freiheit die Hoffnung niemals verlieren ließ.

Immer wieder stößt man in den Kapiteln auf Menschen, denen bis heute ihrer Strahlkraft nicht entrissen wurde. Doch es sind diejenigen, die im Schatten kämpften, die dieses Sachbuch zu einem Abenteuerbuch machen, das man erst beiseite legt, wenn die letzte Seite gelesen ist.

 

Verrisse

Wie kann man sich einem Thema heutzutage allgemeinverständlich nähern, dessen Wurzeln weit zurückliegen, das heute noch Früchte trägt – aber eben nur bei einer bestimmten Klientel? Es geht um die Klassik, die klassische Musik. Einem Großteil der Bevölkerung ein Buch mit sieben Siegeln. Der Rest ist entweder borniert und lässt nichts, was danach kam, gelten oder lässt sich von den Popmelodien von anno dazumal in der Werbung dazu hinreißen sich als gebildet, weil Klassikmusik hörend, zu bezeichnen. Denn damals … ja, damals war alles noch handgemacht, echte Musik eben. Aber bei Weitem nicht von jedermann geliebt oder gar geachtet. Vielmehr wurden Beethoven, Schönberg, Brahms, Bruckner, Verdi, Wagner, Mahler und Strauss, der Richard, geächtet. Und wenn nicht sie persönlich, dann ihre Werke.

Wenn am Samstagabend die Glotze stundenlang das dillethantische „Bühnentun“ durch ein einziges Talent-Highlight Vergessen gemacht wird, steigen die Zuschauerquoten und jeder Zuseher wird zum Kunstexperten, weil er der Expertenmeinung das „mega“ unreflektiert abnimmt und nachplappert. Doch wie war das denn vor zweihundert oder hundert Jahren? Ein Skandal wurde tatsächlich auf der Bühne dargeboten, von Künstlern erbracht, die wahrhaft Neues wagten. Der Beweggrund stand im Vordergrund. Nichts liegt Thomas Leibnitz, dem Autor dieses Buches, ferner als Skandale und Verrisse an den Bühnenrand zu treiben, um dem Treiben von damals einmal mehr Feuer zu geben. Die, die sich ohnehin für Klassik interessieren, liefert er faktenreich und ausführlich Hintergrundwissen. Diejenigen, die sich noch nie für Klassik interessierten, ködert er mit dem Titel – vielleicht kommt der Eine oder Andere doch noch zu dem Entschluss, dass Klassik doch nicht so „old school“ ist wie vermutet. Wer jedoch irgendwie noch zwischen „Ach nee“ und „irgendwie bin ich schon daran interessiert, aber…“ schwankt, kommt auf alle Fälle auf seine Kosten. Denn Thomas Leibnitz lässt nicht die Fachleute mit all ihrer Eloquenz und ihrem Fachwissen auftreten, sondern verleiht der zuweilen Schwere die gewisse Eleganz und Leichtigkeit, die der Klassik durchaus zu Eigen gemacht werden kann. Es müssen nicht immer blitzende Nippel sein, um Aufmerksamkeit zu erregen…

„Viel Geschrei, wenig Wolle“ – so wurde Verdis „Sizilianische Vesper“ verrissen. Öd und dürr und wahrhaft trostlos urteilte man über Brahms. Und Beethovens Spätwerk war in den Augen bzw. Ohren (was bei Beethoven nicht eines gewissen Witzes entbehrt) von Ernst Woldemar „abschreckend, geschmacklos und entsetzlich“. Ob es damals schon so was wie einen Shitstorm gegeben hat? Heute würden postwendend tausend Beethoven-Follower dem Kritiker die Klinge an den Hals drücken – verbal und anonym, natürlich.

„Verrisse“ lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Musik und Geschmack oft eine unheilige Allianz eingehen. Das war so, das ist so und wird es auch immer bleiben. Die Macht des Wortes ist bis heute ungebrochen. Und genau so sollte man auch dieses Buch annehmen. Acht Musiker – die eingangs Erwähnten – waren Geachtete und Geächtete in einer Person. Wer sich von harter Kritik treffen ließ, in dem zerbrach etwas. Wer unbeeindruckt die Kritiker machen ließ, musste sich nicht minder um den Verlust der Zuhörer sorgen. Was das Buch heute noch interessant und lesbar macht, ist die uneitle Sichtweise des Autors zu den teils heftigen Verrissen der damaligen Zeit. Starke Worte verlieren niemals ihre Wirkung.

Das Cottage in Wien

Ja, so ein Cottage in Wien – da lässt’s sich gut leben. Das dachte man sich auch vor mehr als einhundertfünfzig Jahren. Und vor genau einhundertfünfzig Jahren gründete sich der Wiener Cottage Verein. Die Stadt wuchs, wurde aber nicht attraktiver. Als Kaiserstadt natürlich nicht hinzunehmen! Stadtplanerisch orientierte man sich an Paris, Baron Haussmann krempelte die Stadt gerade gehörig um. Stilistisch war man eher in London und England fündig geworden.

Ein ganzes Viertel – damals noch – vor den Toren der Stadt. In Währing, heute der 18. Bezirk von Wien, gleich hinter Alsergrund, wenn man sich von der Donau entfernt. Die Türkenschanze war ein Quartier, von der aus die Belagerer von einst, die Türken, die Stadt ganz gut im Blick hatten. Und hier sollte nun der Wohnungsnot, dem Staub und Gestank der Stadt (immerhin schon eine halbe Million Einwohner) Einhalt geboten werden.

Einzeln stehende Häuser sollten es sein. Viereckiger Grundriss. Zwei Etagen. Und niemand durfte den Blick des Anderen versperren. Oder hier ein die Sinne beeinträchtigendes Gewerbe betreiben. Es sollte also nicht stinken, so wie in der Großen Stadt „da unten“.

Wer heute durch Wien schlendert, tut sich beim ersten Besuch schwer den Ersten überhaupt zu verlassen. Die Pracht der Gebäude im Inneren und am Ring ist einfach zu überwältigend. Doch sind es nur Minuten Fußweg bis in den Achtzehnten. Und schon ist man im „Koteesch“, im Cottage-Viertel. Arthur Schnitzler hat es hier hin verschlagen, „Bambi“ wurde hier auf die Welt gebracht. Historischer Boden.

Norbert Philipp beschreibt sehr anschaulich in seinem Buch wie das Viertel entstanden ist und wie es sich stetig veränderte. Hier trifft man mit Sicherheit weniger Touristen in einem Jahr als am Stephansdom an einem Nachmittag. Und mit genau so großer Sicherheit kann man sich hier ebenso wenig satt sehen. Jedes Häuschen ein Unikat. Nur auf den ersten Blick ähneln sich die Zweigeschosser. Wer innehält, erkennt auch ohne fachmännischen Blick die Unterschiede. Es ist grün hier. Ruhig. Gediegen. Nicht ganz so wie in Hietzing in Nähe des Schlosses Schönbrunn, dennoch nicht minder sehenswert. Im Gegenteil, vielleicht sogar etwas abwechslungsreicher. Und hier stehen nicht alle paar Meter Gedenktafeln. Eine Architekturflaniermeile, die man an vielen Tagen ganz für sich allein haben kann. Wenn man weiß, wo man schauen und innehalten muss. Mit diesem Buch ist das kein Problem.

Verfallene Orte in Wien

Wien ein einzigartiges Attribut zu verleihen, ist eine schier unlösbare Aufgabe. Die Schöne, die Elegante, die Historische. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Doch die Verfallene, darauf kommt keiner, der jemals zwischen Hietzing und Donaustadt unterwegs war. Und dennoch gibt es sie, die verlassenen Orte, die scheinbar dem Verfall preisgegeben werden. Lost places, verfallene Orte, Abenteuerspielplätze für eine neue Art von Geschichtsjägern.

Und manchmal sind diese Orte einfach nur leerstehende Gebäude, die nur darauf warten wieder entdeckt zu werden. Wie das Theater am Mittersteig im Vierten. Es fällt spärliches Licht auf den Saal, wo einst das gespannte Publikum den Filmaufführungen entgegenfieberte. Eine Staubschicht bedeckt den Boden. Restmüll hat der Wind hineingeweht. Vor etwas mehr als einhundert Jahren erbaut, strahlt die Größe immer noch einen gewissen Glanz aus. Nach dem Kriege vergnügten sich hier nur kurz fesche Madeln mit den GIs. Der Kinoboom der Folgejahre hielt nur reichlich zwei Jahrzehnte. Die Logen wurden entfernt. Die Stuckarbeiten mit grässlich-hässlichen Platten verkleidet. Eine Boxhalle wurde aus dem Theater der Träume – so groß ist der Wandel dann auch nicht gewesen…

Heute haben einige der Figuren, die einst die Wände und Decken zierten zerschlagene Nasen. Ironie der Geschichte? Das Theater wieder so herzurichten, dass ein lohnenswerter Kulturbetrieb (der nüchterne Sachton ist in diesem Fall mehr als angebracht) vonstatten gehen könnte, ist fast illusorisch. ABER: Für Stadtabenteurer, die dem Charme des Verlassenen, des Verfallenden anheimgefallen sind, gehören solche Orte zum Standardrepertoire. Denn hier gibt es auf engstem Raum mehr zu sehen als in so manchem Museum.

Ein abgebranntes Restaurant, aus Sicherheitsgründen bald nach der Katastrophe abgerissen, Tiefbunker, und selbst so (thematisch) naheliegende Orte wie der St. Marxer Friedhof sind wahre Fundgruben, um jüngere Geschichte erlebbar zu machen.

Die beiden Autoren / Fotografen machen sich gern die Finger schmutzig, um in aussagekräftigen Bildern die Vergangenheit zu konservieren. Den nur, weil etwas nicht mehr da ist, muss es ja nicht verschwunden sein. Ohne Geschichte kein Jetzt, und erst recht kein Morgen. Nicht viele Orte sind – nicht ganz ohne Aufwand – besuchbar. Die meisten jedoch verstecken sich hinter Riegeln und Schlössern, dicken Mauern, Absperrungen. Zum Glück gibt es Bücher wie dieses, um die versteckten Juwele der Zeit doch noch ans Licht zu bringen.

Kaffeehäuser erzählen

 

Wenn diese Wände reden könnten, oft gehört nie so richtig ernst gemeint. Und wenn wir bei diesem Sprachbild bleiben, so hat Ulrike Rauh die spitzesten Ohren der Welt. Sie reiste von Chile bis zum Vesuv, von der Adria bis zur südamerikanischen Pazifikküste. Und hier und da rastete sie in einem Kaffeehaus und lauschte den Geschichten, die die Wände ihr erzählten. Sie ließ sich inspirieren, setzte sich in die Bücherregale der Cafés, verschwand nicht hinter, sondern im Vorhang und beobachtete. Und diese Erkundungstouren feiern in diesem außergewöhnlichen Buch ihre Zusammenkunft.

Wien ohne Kaffeehauskultur ist wie Paris ohne den Eiffelturm, Florenz ohne die Renaissance oder Venedig ohne das Wasser – einfach nicht einmal die Hälfte wert. Ulrike Rauh hat nicht alle Kaffeehäuser besucht. Aber, die sie besucht hat, bekommen durch ihre Geschichten noch einmal einen besonderen Touch von Exklusivität. Im Café Central in Wien beobachtet sie eine Dame, die hier ihr tägliches Ritual vollzieht. Sie liest wie einst Stefan Zweig, der die riesige Auswahl an Magazinen so mochte. Nach dem ersten Kaffee – es gibt soooo viele Arten der Zubereitung, vom Einspänner über den Verlängerten, dem Fiaker …. – gibt’s Kuchen, Malakofftorte und den zweiten Kaffee. Die Dame ist Schriftstellerin, das verbindet Beobachtete und Beobachterin.

Mal erzählen die eleganten, schweren Vorhänge vom Geschehen an den Tischen, mal sitzt die Erzählerin zwischen Bücherrücken und schaut neugierig auf die Szenerie. Histörchen gibt es allemal zu erzählen. Ulrike Rauh liebt es den Dingen auf den Grund zu gehen. Und so verwandelt sich die manchmal melancholische Erzählweise in eine Exkursion in längst vergangene Zeiten. Wer hat wann wen bedient? Wessen Bilder hängen (immer noch) an den Wänden? Welcher Freigeist konnte und kann sich hier den Weg bahnen?

Berühmte Cafés wie das Florian in Venedig bekommen dieselbe Aufmerksamkeit wie scheinbar in den Hintergrund getretene Wohltempel wie das Hawelka in Wien, dessen Ruf nur leiser als der des Sacher oder Mozart erscheint. Hier trinkt man nicht einfach nur eine Mischung aus gemahlenen, zuvor erhitzten Bohnen, die im gekochten HaZweiOh kredenzt werden. Hier zelebriert man das Leben. Hier lässt man die Seele baumeln. Hier ist man Mensch.

Kalender 2022 Österreichische Geschichte

Franz-Josef, Rudolf, Maria Theresia und natürlich Sisi – Österreichs Geschichte verbindet man oft mit Namen, den Namen gekrönter Häupter. Doch die Alpenrepublik auf ein paar Namen zu reduzieren, wäre fatal. Auch wenn die Hinterlassenschaften der Adligen bis heute sichtbare und wahre Besuchermagnete sind. Wenngleich man zugeben muss, dass 2022 mit vielen Berühmtheiten einhergehen wird.

So begeht man 2022 den 150. Todestag von Franz Grillparzer, dem österreichischen Nationaldichter, feiert den 225. Geburtstag von Franz Schubert und erinnert sich am 4. September an ein einhundertfünf Jahre zurückliegendes Ereignis, dessen Entstehung man oftmals den Beatles zuspricht. Alexander Moissi war ein Schauspieler. An diesem 4. September im Jahr 1917 – in Europa wütete unerbitterlich der Krieg – stand er auf der Bühne der Volksbühne Wien. Sein Spiel, vor allem aber sicher sein Aussehen ließ die Massen an Mädchen und jungen Frauen anschließend die Orchesterreihen stürmen. Massenhysterie. Ein Fall für Freud und Schnitzler, der übrigens am 15. Mai seinen 160. Geburtstag feiern würde.

2022 wird für viele ein besonderes Jahr werden. Irgendwann einmal wird es vielleicht das Jahr sein, in dem man die Pandemie mit dem allzu plakativen Wort Covid-19, das eher an eine militärische Spezialeinheit erinnert als an eine weltumspannende Angst, in den Griff bekam.

Österreichs Geschichte in Bildern: Jede Woche ein Jubiläum, das man feiert, sofern man sich erinnert, oder zumindest ein erinnerungswürdiges Ereignis, das man dank dieses Kalenders mindestens für sieben Tage (man kann diese beiden Worte auch ohne das derzeit anschließende „Inzidenz“ verwenden, tatsächlich!) im Kopf behält.

Die Bandbreite ist enorm. Vom Jubiläum der Vierschanzen-Tournee und der „Schande von Gijón“ über Eroberungen von Festungen wie der von Belgrad bis hin zur Geburtsstunde der österreichischen Eisenbahn findet jeder etwas, um näher an den Kalender heranzurücken und sich der Geschichte bewusst zu werden. Denn eines ist sicher: Geschichte wird niemals enden!