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Tod in Monte Carlo

Die Region Banat teilen sich heute Serbien, Ungarn und Rumänien. Aus dieser Region stammt auch er Autor dieser anrührenden, aufwühlenden, verschwenderischen Geschichte. Und auch die Hauptfigur, Moritz Karpaty hat enge Verbindungen zu Ivan Ivanji.

Es ist Spätsommer 1939, Europa bebt, es brennt noch nicht lichterloh, doch die Glutnester sind gelegt. Der jüdische (das muss aufgrund der Zeit, in der die Geschichte spielt leider erwähnt werden) Arzt Moritz Karpaty macht zum ersten Mal Urlaub. Weit über siebzig Lenze zählt er. Sein Freund, der Zuckerfabrikant Viktor Elek (auch keine fiktive Figur, sondern real) überredet ihn nach Monte Carlo zu fahren. Das mondäne Monte Carlo klang in dieser Zeit schon wie das Elysium aller, die Träume wahr werden lassen wollten. Die Zeit mit Viktor – die Familie bleibt zuhause – genießt der Arzt. Ebenso das Klima, die festlichen Tafeln und das Casino. Und siehe da: Der bisher nur im winzigen Rahmen spielende Doktor hat Glück im Spiel. Und wie! Ein Millionengewinn darf er sein eigen nennen.

Viktor rät ihm gleich zu einer sicheren Anlage, zuhause im Banat. Auch wenn die politische Situation in Europa auf mehr als wackligen Füßen steht, so ist er felsenfest davon überzeugt, dass das Geld in der Heimat am sichersten angelegt ist.

Die Nachrichten künden hingegen von den ersten Bomben des Krieges. Polen wurde zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgerieben und aufgeteilt. Deutsche, Schweizer, Franzosen – Europa trifft sich in Monte Carlo und diskutiert aus sicherer Entfernung die Lage des Heimatkontinentes. Das Übel, das allen Gegnern widerfährt, ist vielerorts noch ein Gerücht. Selbst, wer genau Bescheid weiß, sträubt sich sein Wissen zu teilen.

Neben dem Glück im Spiel – Viktor ist inzwischen abgereist und lässt den Doktor allein an der azurblauen Küste zurück – bahnt sich auch das Glück in der Liebe an. Maurice, wie er sich nun nennt, hat beschlossen nicht auf den Rat seines Freundes zu hören und will stattdessen die Millionen lieber in Monte Carlo verjubeln. Die russische Tänzerin Ira hat es ihm angetan. Und sie erwidert seine Avancen. Gen Heimat schickt er Briefe voller Urlaubsschwärmereien, im Gegenzug bekommt er Post voller Sehnsucht nach dem Gatten. Er und Ira sind unzertrennlich, während Europa sich immer weiter aufspaltet und Keile zwischen die Völker getrieben werden. Kann so eine Geschichte gut enden? Darf so eine Geschichte Gewinner haben?

Ivan Ivanji plaudert nicht einfach nur aus dem familiären Nähkästchen. Er zeichnet ein dunkles Kapitel europäischer Geschichte anhand seiner eigenen Familie nach. Blauäugigkeit und abgrundtiefer Hass treffen an einem Ort aufeinander, der auf den ersten Blick kaum unpassender zu sein scheint. Doch die Idylle des kleinen Landes trügt. Auch die Landesherren wussten geschickt die bald neuen Herren Europas zu umgarnen. Diplomatie hin oder her. Die Grimaldis kämpften an allen Fronten während dieser Zeit. Monte Carlo als sicherer Hafen, diese Illusion wurde mitten Krieg aufs Perfideste zerstört, als Juden ausgeliefert wurden, um in deutschen Konzentrationslagern ihr Ende zu finden. Der Tod in Monte Carlo ist ein symbolischer. Für Moritz Karpaty kam er in Gestalt des Alters…

Durch den Süden Frankreichs

„Umso weniger man denkt, desto einfacher wird es“, mit dieser epochalen Erkenntnis reicht es allenfalls für ein projektbezogenes „Kommentatoren“-Engagement in einer Randsportart. Wer mit dieser Einstellung Frankreich im Allgemeinen und dessen Süden im Speziellen erleben will, kommt über Bouillabaisse und Sonnenbrand nicht hinaus!

Manfred Hammes liebt die Côte d’Azur, die Rhône, das Languedoc, den Train de pigne … halt alles, was im Süden Frankreichs den Süden Frankreichs ausmacht. Und das spürt man mit jeder Zeile dieses Buches, mit dem man diesem einzigartigen Landstrich näher kommt und ihn in sich aufsaugt. Ein Reiseband soll Appetit machen, Hilfestellung leisten und die richtige Weg anzeigen. Das tut dieses Buch! Doch es erlaubt dem Leser / Reisenden mehr als nur einen Blick über den Fischsuppentellerrand hinaus.

Sechzehn Postkarten schickt Autor Manfred Hammes an den Leser. Sechzehn Kapitel verführen, verzaubern und lassen den Leser sich in eine Region verlieben, die mit offenen Armen auf Besucher wartet, doch ihre wahren Schätze nur dem Neugierigen offenbart. Joseph Roth und Vincent van Gogh bereichern gleich das erste Kapitel. Letzter war dermaßen von dem Licht angetan, dass er es sich nicht vorstellen konnte jemals wieder woanders zu malen. Eine unglückliche Liebe, wie hinlänglich bekannt ist. Doch die Provence ohne van Gogh wäre auch irgendwie unvorstellbar. Wesentlich kühler ist es, wenn der Mistral durchs Rhônetal bläst. Dann sinken die Temperaturen sichtbar – im Ernst: Wer das Thermometer währenddessen beobachtet, kann den Temperaturabfall nicht nur spüren, sondern auch sehen.

Doch man fährt nicht in die Provence, an die Côte oder in die Pyrenäen, um van Goghs Motiven nachzujagen oder dem Thermometer beim Sinken zuzuschauen. Man will ein Lebensgefühl in sich aufnehmen. Und dazu gehört auch Wein. In loser Reihenfolge berichtet Manfred Hammes über die Flüssigkeit, die in Maßen ein Genuss ist, bei Mangelerscheinungen Objekt der Begierde ist und im Übermaß den Kopf wegen zu viel Input anschwellen lässt.

Zu viel Input kann man diesem Buch nicht vorwerfen. Es gibt halt nur zu wenig Zeit, um alles aus diesem Buch zu besuchen, auszuprobieren oder nachzuempfinden. Wobei das Nachempfinden ganz einfach ist. Besonders mit diesem Buch in der Hand oder zumindest im Reisegepäck. Siebenhundert Seiten sind kein Leichtgewicht. Aber Kultur hat nun mal ihren Preis! Den Preis des Wissens und des Abenteuers. Es ist ein Leichtes sich Land und Leute eigen zu machen ohne dabei anzuecken.

„Literatur, Kunst, Kulinarik“ lautet die Unterzeile des Buches. Es ist schwer eine rundum funktionierende Handhabung des Buches zu empfehlen. Wer den Süden Frankreichs besuchen will, aber partout nicht weiß, wohin, dem fällt die ehrenvolle und segensreiche Aufgabe zu die siebenhundert Seiten zu lesen. Wer sich in Nizza, Perpignan, Montpellier auskennt wie in der sprichwörtlichen Westentasche, findet in den Ecken selbiger noch so manchen Krümel Wissenslücke, der ihm bisher verborgen blieb. Wann und wo auch immer man dieses Buch in die Hand nimmt, wird man fündig, um die nächsten fünf Minuten oder fünf Urlaube gehaltvoll verbringen zu können. „Durch den Süden Frankreichs“ ist mehr als nur eine Ergänzung zu einem klassischen Reiseband. Ohne dieses Buch ist Südfrankreich nur der Süden unseres Nachbarn, mit diesem Buch ist dieser Landstrich die zweite Heimat, die man jeden Tag neu entdeckt.

Exil unter Palmen

Klingt wie ein Traumurlaub, der niemals enden sollte: Eine sehr lange Zeit an der Côte d’Azur. Das savoir-vivre genießen. Die ewig strahlende Sonne. Ja, für viele ist das das Synonym von Paradies oder zumindest einer zeitlich begrenzten Erholungsphase selbigen Ausmaßes. Doch es gab eine Zeit, in der Die Côte d’Azur nicht nur der Sehnsuchtsort der Sonnenanbeter war, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Zuflucht. Ein Ort, an dem man Terror, Erniedrigung und Angst ums eigene Leben ein wenig vergessen konnte. Sanary-sur-Mer war einmal das Exil von Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Thomas Mann, Hermann Kesten. Die Künstler mussten ihre Heimat verlasse, da sie als Dorn im Fleisch des Faschismus Verderb bedeuteten. Schon kurz nach der Machtübernahme der Nazis flohen sie zuhauf. Hermann Kesten, Lektor beim Gustav Kiepenheuer Verlag, war einer der Lockvögel. Er war der erste Ansprechpartner und Wohnungsvermittler. In La Tranquille fanden die Manns, Thomas, Katia, Golo, Michael, Erika und Monika das gewünschte Domizil – mit entsprechender Zimmeranzahl und funktionierender Struktur.

Die Villa Valmer wurde das Arbeits- und Lebenskosmos von Lion Feuchtwanger und seiner Frau Marta. Sie war es auch, die die Besucher tagsüber abwimmelte, damit ihr Gatte an seinen Werken schreiben konnte. Doch das „Exil unter Palmen“, wie es die Autorin dieses Buches, Magali Nieradka-Steiner, nennt, unterliegt auch dem Gang der Geschichte und ihrer Wendungen.

Anfangs waren die Deutschen, man nannte den Ort schon Sanary der Deutschen, noch willkommen. Sie waren still, blieben unter sich und im Ort achtete man sie auch wegen ihrer angeborenen Etikette. Man stand sich nicht im Weg. Das Vichy-Regime brachte neuen Wind an die Côte. Behörden wurden effizienter. Aus dem Sanary der Deutschen wurde das Sanary der Juden. Wieder mussten Dutzende Deutsche – eine Gedenktafel im Ort weist fast siebzig Exilanten aus Deutschland und Österreich auf – flüchten. Die Nähe zu Marseille war Glück im Unglück. Denn von hier gab es meist nur die letzten Passagen gen Afrika, Lissabon, um dann weiter in Richtung Süd- oder Nordamerika zu kommen. Einige schafften den Absprung sofort. Viele wurden interniert. So wie Lion Feuchtwanger oder Alfred Kantorowicz. Wenigen gelang die Flucht. Zu viele ertrugen die Lagerzeit nicht.

Magali Nieradka-Steiner stellt einen Ort vor, dessen Lage für Urlauber ideal ist. Mittlerweile hat sich der Ort seiner historischen Bedeutung gestellt und weist hier und da auf die berühmten ehemaligen Bewohner hin. Sie alle, von Ernst Bloch bis Stefan Zweig von Egon Erwin Kisch bis Alfred Neumann, waren auf der Flucht. Sie fanden hier kurz- bis mittelfristig eine Raststätte auf ihrem weiteren Weg in eine bessere Zeit. Manche kehrten noch einmal zurück, nachdem die Schrecken vorbei waren. Andere fanden in Kalifornien, ihre Lebensheil. Sie kehrten nie mehr in ihre Heimat oder ihr Exil unter Palmen zurück.

Die fremden Götter

Man überschreitet deutlich mehr als nur die Grenze des guten Geschmacks, wenn man Luises Leben, das in Nizza begann und in Avignon weitergeführt wurde, als himmlisch bezeichnet. Denn es sind die Jahre nach der Naziherrschaft in Europa. Ihre Eltern haben das Konzentrationslager überlebt, und können wie nur Wenige zurückkehren. Ihre Jüngste hat die Strapazen des Krieges nicht überlebt. Luise lebt! Die Jahre im Ursulinenkloster, dessen Gebäude heute noch in Avignon existiert, haben ihre Spuren hinterlassen. Luise ist nun strenggläubige Katholikin. Statt sich maß- und vor allem grenzenlos über die seltene Familienzusammenführung zu freuen, sind Mutter und Vater zutiefst enttäuscht über den Wandel der Tochter. Denn die Eltern sind nicht minder tiefgläubige Juden. Weshalb sie auch von der Gestapo deportiert wurden.

Walter Schott wurde im KZ zu einem ernsthaften Juden. Wollte man ihm dies austreiben, ist es gründlich in die Hose gegangen. Wieder in Freiheit kann er seiner Religion nicht mehr auch nur eine Handbreit freigeben. Das spürt besonders Tochter Luise. Ihr Vertrauen in Gott ist ungebrochen. So oft es geht, betet sie in der Kirche, bittet um Beistand in der schwierigen Zeit. Denn die Eltern haben sich verändert.

Walter Schott fleht seine Tochter an wieder zum Judentum überzutreten. Einen konkreten Grund hat er nicht bzw. kann ihn nicht nennen. Für einen Mann mit seinem Schicksal tut er etwas Ungeheuerliches: Er sperrt seine Tochter bei Wein, Brot und Apfel ein. Niemand darf zu ihr. Nicht einmal die Schulkameraden, denen erzählt wird, Luise habe die Masern. Auch der Mutter wird strengstens untersagt Luise zu besuchen.

Kurz zuvor hatte es der Vater „noch im Guten versucht“. Théodore Bovin, der Sohn des Rabbis und selbst schon auf dem Sprung zum Philosophiestudium an die Sorbonne sollte Luise ins Gewissen reden. Doch stattdessen verguckt er sich in die hübsche Siebzehnjährige. Emile Colombe ist Buddhist. Auch er schafft es nicht – will es auch nicht, denn sein Wankelmut sieht keine Religion vor – Luise zur Rückkehr zu bewegen. Denn Luise ist in Henri Matelotte verknallt. Selbstständiger Fotograf, der in ihr aber leider nur ein Abenteuer sieht. Sie sind trotzdem Luises letzte Möglichkeit dem Wahn des Vaters zu entkommen.

Es ist erschreckend zu lesen, wohin religiöser Wahn führen kann. Und so aktuell. Hermann Kesten schrieb diesen Roman in den 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Krieg war gerade aus, etwas Ruhe kehrte langsam ein. Doch die Dickschädel – und deren Couleur spielt überhaupt keine Rolle – mischen immer noch mit. Es ist die Zeit der Neuanpassung, des Aufbruchs und Neuaufbaus. Das Land liegt brach, und die Fanatiker sehen darin die Chance ihre Ideen auf fruchtbarem Boden zu säen. Doch die Menschen sehnen sich nach Bewährtem, nach Sicherheit. Und die fanden nicht Wenige im Schoß der Religion. Warum also davon abweichen? Luise will ihren eigenen Weg gehen. Dornig wird er und entbehrungsreich, doch es ist ihr Weg.

Der Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte

Ein Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte

Auch 2016 werden wieder zahlreiche Jubiläen begangen. In Frankreich gedenkt man der Toten der Schlacht um Verdun. William Shakespeares Todestag jährt sich zum 400. Mal. Doch es gibt Jubiläen, die kaum Beachtung finden. Zum Beispiel kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der Sommer vor neunzig Jahren am Cap d’Antibes der Letzte ohne touristisches Tohuwabohu war. Ein Jubiläum, das die Tourismusmanager vor Ort gern vergessen, und lieber in elf Jahren den Startschuss des Gegenteils feiern wollen und werden.

Und genau in diesem letzten ruhigen Sommer lassen sich einige illustre Gäste nieder, genauer in Juan-les-Pins. Das Ehepaar Gerald und Sara Murphy, die mit ihrem Geld in Frankreich sehr gut leben können, laden Ernest Hemingway, Pablo Picasso sowie F. Scott und Zelda Fitzgerald ein, um einen unbeschwerten Sommer zu verbringen. Alle kommen mit Sack und Pack und Kind und Kegel. Die Fitzgeralds lebten in New York in Saus und Braus. Mal wie The Who zerstörten sie Hotelzimmer, dann badeten sie wie Anita Ekberg in Brunnen. Berüchtigt waren sie. Und Scott war auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Sein Gatsby verkaufte sich, das Broadway-Stück war bei Wind und Wetter ausverkauft und die Filmrechte wechselten schon bald den Besitzer. Hier sollte nun der Nachfolger, der nächste groß Wurf gelingen. „Zärtlich ist die Nacht“ soll hier entstehen. Doch die Rivalität zu Hemingway und das allzu ausschweifende Leben lassen einfach keine Zeilen auf der Schreibmaschine entstehen.

Die großen Gönner, die Murphys, fühlen sich auch mehr zu Hemingway hingezogen. Auch der bärtige Prachtkerl wirft mehr als ein Auge auf Sara statt auf seine Frau Hadley. Und sein Nachwuchs leidet jämmerlich an Keuchhusten. Urlaubs-, Sommerstimmung sieht anders aus.

Alle Villen am Cap sind belegt. Hier wird getrunken, fürstlich gespeist, intrigiert, geschmollt, gebadet. Nur künstlerisch tätig sind die Wenigsten.

Erst acht Jahre später soll F. Scott Fitzgerald seinen Roman fertig haben. Seine Ehe ist kaputt, Zelda verfällt immer mehr den Depressionen, Scott dem Alkohol. Die Auszeit an der Côte d’Azur sollte einen Wendepunkt darstellen. Was sie in gewisser Weise auch war. Doch nicht wie es sich die Protagonisten vorstellten. Was den Ruhm und Lebensstandard steigern sollte, Fitzgerald machte nie einen Hehl aus seiner Intention zu schreiben, um gut leben zu können, wird zum Desaster. Zelda ist eifersüchtig auf Scotts Erfolg. Scott ist eifersüchtig auf Ernest, weil er die Murphys in seinen Bann zieht. Ernests Beziehung zu Hadley geht den Bach runter. Und auch die Murphys haben einen harten Schicksalsschlag zu verarbeiten.

Emily Waltons Buch ist eine echte Urlaubslektüre. Nur wenige können und wollen sich eine ausgiebige Auszeit an einer der schönsten (und teuersten) Meeresgegenden gönnen. Heute regieren hier Zehensandalen und Partygeschrei. Damals herrschte künstlerisches Chaos. Dieser Sommer ist die Ouvertüre auf den Abgesang der Goldenen Zwanziger. Trotz aller gegebenen Umstände, um Großes zu schaffen, wurde der Sommer 1926 für die Gruppe zur Zerreißprobe und zur Zäsur in ihrer aller Leben. Ein nostalgisches Stück, das zum Träumen einlädt.

Im Hotel Régina

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Menschen im Hotel. Das geht es oft chaotisch zu, wenn man Hollywood glauben darf. Im Hotel Régina in Nizza ist die Stimmung auch ziemlich angespannt. Wir schreiben das Jahr 1954. Frankreich will schon länger einen seiner größten Künstler mit einer Medaille ehren. Eine Gedenkmünze für Henri Matisse. Doch alle Entwürfe weist er entschieden zurück. Als die Prägestätte einen neuen Versuch unternimmt den Künstler zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, stimmt der nur unter einer Bedingung zu: Er selbst will den Künstler auswählen. Und ihm schwebt da auch schon ein Name vor. Alberto Giacometti. Wer in den vergangenen Monaten eifrig die Nachrichten verfolgt hat, weiß, dass seine Skulpturen mittlerweile zu den gefragtesten und vor allem zu den teuersten der Gegenwart zählen. Einhundertsechsundzwanzig Millionen Euro bot 2015 ein Sammler für die anderthalb Meter hohe Bronzeskulptur „Man Pointing“.

Und begab es sich, dass der Schweizer Künstler einige Tage im Sommer bei Matisse an der Côte d’Azur zubringen durfte. Matisse saß regungslos auf seinem Stuhl oder am Tisch. Von schwerer Krankheit gezeichnet, ließ er sich portraitieren. Er wollte die Skizzen nicht sehen. Das beeinflusse ihn und den Künstler.

Giacometti ritzte mehr als dass er malte – nach Matisse könne eh niemand malen, auch er nicht. Millionen von Museumsbesuchern sehen das wahrscheinlich anders. Wenige Striche genügten, das kann man heute noch in zahlreichen Museen betrachten, um dem großen Meister gerecht zu werden. Die Kunstfertigkeit erschließt sich nicht jedem auf Anhieb. Die einleitenden und abschließenden Texte von Gotthard Jedlicka, einem Freund Giacomettis, dem Giacometti-Spezialisten Casimiro di Crescenzo und Kunsthistoriker Michael Lüthy geben den abgebildeten Skizzen die passenden Erläuterungen und füllen die Wissenslücken mehr als kenntnisreich auf.

Wer sich noch nicht eingehender mit Matisse und Giacometti beschäftigt hat, kommt bei der Lektüre dieses Buches nicht mehr aus dem Staunen heraus. Wissenschaftliche Betrachtungen zu einem Künstler sind oft etwas sperrig zu lesen. Denn jeder Betrachter hat eine andere Sichtweise auf das Kunstwerk. Hier sprechen nun aber echte Experten, die in der Kunst mehr sehen als ein gefälliges Objekt. Sie überlegen nicht, ob es zur Wohnungseinrichtung passt. Sie rücken das Objekt gerade, ziehen Parallelen zum Leben, ordnen es ein. Spannend wie ein Glauser, detailreich wie ein Mosaik, unter der Lupe des Wissens erklärt.

Henri Matisse starb nur kurze Zeit nach der letzten Sitzung am 3. November 1954 in seinem Haus Cimiez. Alberto Giacomettis Todestag jährt sich am 11. Januar 2016 zum fünfzigsten Mal.

Melodie der Geister

Die Melodie der Geister

Rue Notre Dame des Grâce, Marseille. Hausnummer 38. Im Sessel sitzt ein Toter. Doktor. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Epilepsie. Auf seinem Schoss ein Buch. Totem und Tabu. Von Sigmund Freud.

Kommissar Michel de Palma, der Baron, nimmt den Fall zur Kenntnis. Und schon meint man, die Gedankengänge erraten zu können, die Rädchen im Hirn des Ermittlers klackern zu hören. Das Buch kann doch kein Zufall sein. Und schon gar nicht die aufgeschlagene Passage über Kannibalismus. Das steckt mehr dahinter.

Da hat man noch nicht einmal ein Zehntel des Buches geschafft und wähnt in einer großartigen Story. Um es vorwegzunehmen: Man wird auch in den restlichen über neun Zehnteln nicht enttäuscht werden!

Die Enkelin des Toten bringt ein wenig Licht ins Dunkel der Ermittlungen – de Palma fragt sich warum nur eine Maske aus der reichhaltigen Sammlung des Opfers gestohlen wurde. Berenice Delorme hat ihren Großvater vergöttert. Er erzählte ihr von seinen Reisen und aus Papua-Neuguinea. Von fremden Völkern und ihren fremdartigen Ritualen. Und er sammelte Masken. Sie waren nicht nur Dekoration, sie hatten einen tieferen Wert. De Palma ist beeindruckt von so viel Wissen. Doch warum fehl nur eine Maske? Die Sammlung scheint ja immens wertvoll gewesen zu sein.

Die Gedankengänge de Palmas werden durch Spaziergänge und Eindrücke aus Marseille verziert. Als Leser schreitet man Seite an Seite mit dem Baron durch die Mittelmeermetropole und atmet den Duft der Stadt ein. Fast schon spielerisch erobert man diese Jahrtausende alte Stadt. Und darf dabei rege an den Ermittlungen teilhaben.

Dem Baron lässt das Buch auf dem Schoß des Toten keine Ruhe – warum gerade dieses Buch? Warum diese Seite? In die Grübeleien platzt die Nachricht vom Tod Paulos, einem Gauner und einem Spitzel. Er wurde  erschossen. Mit nur einer Kugel. Das hat sich jemand gründlich Gedanken gemacht und diese dann auch umgesetzt. So traurig der Tod des Spitzels ist, so sehr verbeißt sich der Ermittler in die Lektüre des Freud’schen Werkes. Bei einem Experten findet er Rat.

Der Mix aus geheimnisvoller Welt der Ureinwohner Papuas und der Mittelmeerstadt ergeben eine spannende Melange, die den Leser ab der ersten Seite fesselt. De Palma ist nicht der Mann großer Worte. Er liebt die Oper genauso sehr wie seine Zigaretten. Und die kleinen grauen Zellen benutzt er genauso geschickt wie er das Flirten mit seiner Unterstufenliebe versteht. Michel de Palma, der Baron, ist der neue Star im literarischen Krimidickicht Marseilles.

Das Gelbe Haus – van Gogh, Gauguin: Neun turbulente Wochen in Arles

Das gelbe Haus - van Gogh, Gauguin

Genialität im Doppelpack – für viele der einzige Weg, um sein Potential vollständig zu entwickeln. Man denke nur an Laurel und Hardy, die nur als „Dick und Doof“ zu Weltruhm gelangen konnten. Für Vincent van Gogh und Paul Gauguin war eine Zusammenarbeit nicht von Nöten. Zumindest nicht für ihre Genialität. Neun Wochen sollten sie zusammensein. Sehen, Malen, Diskutieren, Streiten, aber auch Genießen. Martin Gayford war nicht dabei, damals im Herbst/Winter 1888. Doch er lässt den Leser in diese Zeit reisen und mit den beiden Maler-Göttern am Tisch sitzen, gewährt Blicke auf die Staffeleien und in deren Seelen.

Alles begann am 23. Oktober 1888. Der Impressionismus muss seit Jahren durch eine handfeste Krise gehen. Die Absätze und die Akzeptanz schwinden. Van Gogh hat sich – auch dank der Unterstützung seines Bruders – in Arles in der Provence niedergelassen. Das Gelbe Haus ist sein neues Zuhause. Seit ein paar Monaten arbeitet er hier, seit ein paar Wochen wohnt er auch hier. Doch van Gogh ist einsam. Dank seines Bruders kann er hier leben. Doch ihm fehlt das Leben. Das Leben, das er hofft sich zurückholen zu können, in dem Paul Gauguin, der zur Zeit auch in der Nähe des Meeres, allerdings des rauen Atlantiks, in Pont Aven wohnt. Beide Maler verbindet ein gemeinsames Schicksal: Beide verdienen mit ihrer Kunst nicht gerade viel Geld (man stelle sich vor, dass man heutzutage auf dem Flohmarkt einen echten Gauguin oder van Gogh finden könne…). Ihre Reputation ist mehr als zweifelhaft. Ihr Selbstbewusstsein ist stark angeknackst. Und diese beiden sollen nun in den letzten Wochen des Jahres 1888 hier vor der spätherbstlichen Kulisse der Provence zusammenarbeiten, leben und sich entwickeln? Ob das was wird?

Immer wieder flechtet der Autor kleine Begebenheiten aus dem Leben der beiden Künstler ein, um den Charakteren typische Züge zu verleihen. So werden die abgebildeten Werken in den entsprechenden Kontext gesetzt. Schon nach wenigen Seiten kann sich der Leser als „kleiner Experte in Sachen Gauguin und van Gogh“ bezeichnen.

Die Zeit verrinnt. Der Herbst in der Provence, das unvergleichliche Licht und die letzten kräftigen Sonnenstrahlen des Jahres lassen die beiden Künstler tagein, tagaus die Gegend auf Leinwand bannen. So gegensätzlich die beiden waren, so einvernehmlich sind ihre Studien und Bilder. Noch! Der selbstbewusste Gauguin mit Talent und der in sich gekehrte, unausgeglichene van Gogh mit dem überbordenden Talent. Van Gogh profitiert von Gauguin insofern, dass er ihm die Ruhe liefert konzentriert arbeiten zu können. Gauguin ist von van Gogh Sichtweise beeinflusst. Manchmal sitzt van Gogh in der ersten Reihe und malt, Gauguin platziert sich nur wenige Meter hinter ihm.

Die Poesie der Gemeinsamkeit sitzt auf einem brodelnden Vulkan. Die Unterschiede sind kaum sichtbar, da treten sie mit geballter Macht hervor. Das Ende ist bekannt: Eine der berühmtesten Anekdoten und die berühmteste Flucht der Kunstgeschichte. Dem Einen fehlt ein Ohr, der Andere flüchtet in die Südsee. Das kennt jeder. Doch wie es dazu kam, weiß kaum jemand. Dank Martin Gayford rücken zwei Maler wieder in den Fokus des Interesses. Exzellent recherchiert, spannend geschrieben und reich bebildert.

Wie bei Laurel und Hardy waren die beiden Maler unterschiedliche Charaktere. Laurel und Hardy hielten es Jahrzehnte miteinander aus – mal besser, mal weniger gut. Van Gogh und Gauguins Zusammenarbeit war eher ein Intermezzo von wenigen Wochen. Ihre Liaison bzw. das Ergebnis daraus ist heute Millionen wert.

Dieses Buch liest man als Unterhaltungslektüre am Baggersee, um die Lichtstimmung der herbstlichen Provence annähernd zu genießen oder als Tagebuch im Rhythmus des Kalenders ab dem 23. Oktober bis in die Weihnachtszeit. Beides hat seinen Reiz. Wer sich bisher nicht recht für die Kunst der beiden Helden begeistern konnte, wird Sonnenblumen und Landschaftsaufnahmen von nun an mit anderen Augen sehen.

Roter Lavendel

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Côte d’Azur und Provence – zwei Regionen, die immer noch zum Träumen einladen. Ralf Nestmeyer weiß das, weil seine Reisebücher ein unverzichtbares Utensil bei Reisen im Süden Frankreichs sind. Mit „Roter Lavendel“ verlässt er die Sachebene und lässt seiner Phantasie freien Lauf. Lavendel und Provence – das passt. Und wie! Eigentlich soll der Erzähler, ein Fotograf, einen Kalender über das urtypische provenzalische Gewächs realisieren. Ein dankbarer Auftrag, denn er kennt die Provence, hat Freunde dort. Ohne groß nachzudenken, nimmt er den Auftrag an.

Ausgangspunkt ist die wohl schönste Stadt Frankreichs, Avignon mit dem wuchtigen Palais du Pape und den pittoresken Gassen. Wer einmal hier durch die Gassen mit ihren bunten Läden gewandelt ist oder einmal seine Blick vom Turm des Palais‘ über die Rhône schweifen ließ, ist sich sicher, dass es kaum schönere Plätze gibt. Doch für den Erzähler bekommt diese Aussicht einen mysteriösen Anstrich.

Ein älterer Mann, den er aus dem Zug kennt, bittet ihn ein Paket mit für ihn wichtigen Papieren aufzubewahren. Da sich die beiden auf Anhieb sympathisch waren, gibt es keine Frage. Doch als er die Papiere in der Mappe Michel Perras, so der Name des älteren Herren, zurückgeben will, ist der verschwunden. Abgereist. Aus Neugier – die beiden haben sich bereits über die harte Kindheit Perras‘ unterhalten – blättert der Fotograf ein wenig in der Kladde. Darin sind einige Briefe eines Deutschen, der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Südfrankreich interniert war und fliehen konnte. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Perras und den Briefen? Das eigentliche Fotoprojekt rückt immer weiter in den Hintergrund.

Die Zeilen ziehen den Erzähler immer weiter in eines der düstersten Kapitel deutsch-französischer Geschichte. In der in den Briefen erwähnten Ziegelei Les Milles erhält die Geschichte der Briefe neuen Schwung. Dort ist auch ein Gedenkzentrum eingerichtet, in der ein Mann arbeitet dessen Tochter für den Erzähler zu unschätzbarem Wert wird…

Ralf Nestmeyer ist „im Nebenberuf“ Historiker. So erklärt sich auch das enorme Fachwissen, das er hier und da gekonnt einfließen lässt. Schriftsteller wie Thomas Mann und Joseph Roth, der Maler Max Ernst und viele unbenannte deutsche Exilanten fanden im Süden Frankreichs ein Zeitlang eine neue friedvolle Heimat. Als die Nazis mit dem Vichy-Regime eine Übereinkunft trafen, dass Deutsche an Deutschland ausgeliefert werden, waren auch ihre Tage im Sonnenlicht gezählt. Siebzig Jahre nach Kriegsende sind immer noch nicht alle Schicksale belegt und erzählt. Davon handelt auch „Roter Lavendel“. Mit dem Unterschied, dass dieses Buch den Spagat zwischen Historie und Urlaubssehnsucht schafft.

Auf See

Auf See

Mit dreiundvierzig Jahren das Zeitliche zu segnen, ist wahrlich nicht erstrebenswert. Ein dahinsiechender Patient, der in geistiger Umnachtung stirbt, muss, um zufrieden abtreten zu können, einiges erlebt haben. Guy de Maupassant war sicherlich nicht zufrieden als er 1893 zu jung in einer psychiatrischen Klinik bei Paris starb. Aber er hat viel erlebt und es niedergeschrieben. So wie diese Geschichte einer zehntägigen Schifffahrt von Antibes nach Saint Tropez.

Nicht nur die Sicht auf die Dinge des Lebens – de Maupassant war zu diesem Zeitpunkt (1887) schon noch (!) bei bester Gesundheit, auch die Beschreibungen des Gesehenen machen „Auf See“ zu einem unverzichtbaren Werk, das sich am besten an den Stränden der Côte d’Azur genießen lässt.

Vorbei an den schneebedeckten Wogen aus Granit, wie er poetisch die Alpen nennt, schippern er und zwei Begleiter südwestlich an der azurblauen Küste entlang. Beim Anblick von so viel Erhabenheit schwelgen viele in Erinnerungen. Guy de Maupassant auch. Er denkt an Paganini. Der sollte nach seinem Tod von seinem Sohn nach Genua gebracht werden. Wegen der Cholera verwehrte man ihm aber in allen Häfen die Anlandung. Er Jahre später wurde der Leichnam von einer kleinen Insel nach Parma gebracht. So düstere Gedanken in solch farbenfroher Umgebung. Im Anhang erfährt der Leser, dass diese Geschichte komplett erfunden ist.

In Cannes lockert sich die Stimmung des Autors. Er lästert im Stile einer Klatschbase über die hier versammelten Fürsten, für die es nur eines zu geben scheint: Sich im Kreise Ihresgleichen sonnen zu können.

Im Leben Guy de Maupassants geht es auf und ab. Wie das Schiff, auf dem er sich befindet, geht es mit ihm Auf und Ab. Manchmal merkt er gar nicht mehr, dass er überhaupt schreibt. Je öfter er an Land geht desto näher ist er an den Menschen. Zwischen Mistral und wogender See philosophiert er über die Mentalität der Franzosen.

Auf See ist Guy de Maupassant ganz er selbst, nicht immer bei sich, doch stets der wortgewaltige Schriftsteller. „Auf See“ ist keine bloße Reisebeschreibung, das war nie sein Ding. Dennoch gelingt es ihm die Schönheit der Côte d’Azur in kraftvolle Worte zu kleiden und den Leser in Urlaubsstimmung hineingleiten zu lassen.

Der Anhang des Buches gibt Aufschluss über die Intentionen der Reise und die Quellen der soeben gelesenen Zeilen. Guy de Maupassant war ein Lebemann mit allen Konsequenzen. Dieses Buch gehört in die Hand an den Stränden der Côte, mit allen Konsequenzen.