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Balkon mit Aussicht

Muss man noch von Paris schwärmen? JA!!! Immer wieder und wieder. Es gibt unzählige Bücher, in denen die Liebe zur Stadt der Liebe eindrucksvoll zu Papier gebracht wurde. Und jetzt kommt noch eines hinzu. Jedoch keine gewöhnliche Lobhudelei mit den „besten Tipps“ für dies und das. Sondern eine Liebeserklärung an eine Stadt, in der die Autorin nicht nur viele Jahre lebte, sondern eine Stadt, die sie aufgesogen hat und die sie aufgezogen hat.

Für Brigitte Schubert-Oustry war Paris ein halbes Jahrhundert nicht nur Obdach, es war ihr Leben. Sie ist deswegen und wegen ihrer unnachahmlich berührenden Sprache die ideale Reisebegleiterin durch die Stadt an der Seine. Als Neuling sollte man dieses Buch als Zweit-, Parallel- oder Zusatzlektüre im Gepäck haben. Denn Brigitte Schubert-Oustry ist keine typische Zeigetante, die nach Links und Rechts verweist, um der hinterher trabenden Masse so viel wie möglich zu zeigen, sie steigt mit dem Leser ins Herz der Stadt.

So nachdrücklich die meisten Urlaubserinnerungen sind, so austauschbar sind sie in den meisten Fällen. Da die Autorin hier in Paris jedoch nicht ihren Urlaub verbrachte, sondern hier wirklich lebte, hinkt der Vergleich mit den meisten Reiseimpressionen. Eine echte Madame Concierge erlebt man nicht als Touri, der mit der Kamera um den Hals baumelnd dem nächsten einzigartigen Motiv hinterherjagt, und dabei die wahre Schönheit der Stadt übersieht. Das sind die wahren Originale. Und sie sind eine aussterbende Spezies. Concierge sein bedeutet alles (!) zu wissen, jeden zu kennen… und zwar bis ins kleinste Detail. Ohne dabei natürlich mit dem Wissen hausieren zu gehen oder die entsprechende Person damit zu behelligen. An ihr, an ihm kommt niemand vorbei. Sie sind die gute Seele, aber auch der schärfste Wachhund der Stadt. Und Brigitte Schubert-Oustry erzählt ausgiebig von ihren Begegnungen mit diesem Menschenschlag.

Genau wie vom immer seltener werdenden Hausfest. Das ist eigentlich keine Pariser Erfindung oder gar ein wiederkehrendes Fest. Findet es allerdings einmal statt, und man ist eingeladen (als Touri fast unmöglich) dann erlebt man Paris wie es wirklich ist. Man kann natürlich auch dieses Buch lesen… Das ist fast so echt wie das Hausfest selbst.

Mit und in diesem Buch schaut man nicht verstohlen durchs Schlüsselloch – die Autorin öffnet bereitwillig jede noch so verschlossen scheinende Tür mit einem Handstreich. Man fächert sich den Duft der Stadt zu, atmet tief ein und ist im Handumdrehen mitten in einer der aufregendsten Städte der Welt. Es gibt sie noch, die Geheimnisse von Paris. Man muss sie ab sofort nicht einmal mehr suchen. Sie liegen ordentlich sortiert vor einem.

Mein Meister und Bezwinger

Da sitzt er nun der arme Kerl! Vor dem Untersuchungsrichter. Hat gar nichts getan. Und muss rede und Antwort stehen. Und einen Namen hat er auch nicht. Den braucht er auch nicht! Denn er weiß alles! Er kennt Vasco. Und er kennt Tina. Und Edgar. Aber den will er eigentlich gar nicht kennen. Und er weiß, was der Revolver von Verlaine und das Herz von Voltaire mit der ganzen Misere zu tun haben. Und er kann reden, schwelgen, fabulieren, faszinieren, verwirren.

Sein Gegenüber aber auch. Er wirft nicht die Flinte ins Korn, wenn die Ausführungen mal ausufern. Er kennt die Tricks und Kniffe der Literatur. Der Richter ist nicht minder belesen als sein Zeuge. Nur beim Thema Haiku hat er Nachholbedarf. Meister und Bezwinger? Nein, nein, nein. Der Titel dieses unfassbar eindrucksvollen Buches bezieht sich nicht auf Richter und Zeuge oder gar Richter und Angeklagten. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht von Verlaine. Und da kommt auch der Revolver ins Spiel. Einst Tatwerkzeug, jetzt Museumsstück.

Vasco und Tina sind knallverliebt. Ineinander. Tina hat jedoch Edgar die Ehe versprochen. Nicht nur, weil sie die Mutter ihrer Zwillinge ist. Und nun ist alles im Umbruch. Der Bibliothekar mit der Liebe zu seltenen – und alten – Schriften und die Schauspielerin, die stundenlang Verlaine und Rimbaud (re)zitieren kann. Das ideale Paar? Das ideale Paar! Mit einer Wucht, die Ketten sprengen kann. Mit einer Gewalt, die Mauer zerbröseln lässt. Aber eben nur zusammen. Vasco sitzt allein in seiner Zelle. Und der Richter will verdammt nun endlich wissen, was da passiert ist!

Doch der Zeuge kann nur Fakten heranschaffen. Die Interpretation muss der Richter sich selbst erarbeiten. Und der Leser? Na der ist der Schlaueste von allen…

François-Henri Désérable schickt alle Beteiligten auf eine wilde Reise durch die Literatur. Die verhängnisvolle Liaison von Verlaine und Rimbaud als Bretter, die die Literaturwelt bedeuten sind die Planken eines wackligen Kahns, der teils schon gekentert ist. Die gischtpeitschende See der Eifersucht und Irrationalität ist glitschig und nicht zu zähmen. Es gibt keinen Bezwinger der Wellen, der sie meisterhaft in ruhige Fahrwasser leiten kann. Eine Dystopie? Ach, mit Analysen sollte man sich beim Lesen nicht beschäftigen. Denn hier werden auf gar wundersame Weise Altes und Neues in ein phantasievolles Korsett gesteckt, das sich im Winde wiegt wie ein zarter Grashalm.

Auch wer nicht zwingend die Tragik hinter dem Herzen Voltaires versteht und die Affäre zwischen Verlaine und Rimbaud kennt, kommt beim Lesen schnell auf den Geschmack welch Freude es bereiten kann umzublättern.

Schlösser der Loire

Es ist schon ein besonderes Erlebnis in der Nacht an der Loire entlang zu fahren. Ringsum nur die ungetrübte Dunkelheit. In der Ferne sind kleine Lichtpunkte zu sehen. Das sind sie – die Schlösser der Loire. Funkelnd wie Edelsteine in der Nacht.

Des Tags sind sie nicht minder beeindruckend. Doch wo anfangen zwischen Tours und Angers? Wie kommt man da hin? Was darf man unter gar keinen Umständen verpassen? Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen sie alle. Darüber wird nicht diskutiert! Heike Bentheimer hat den einen, ultimativen Reiseband zu diesem einzigartigen Ensemble royaler Pracht geschrieben. Über 450 Seiten lang. Und jede Seite ein Märchen, das Wirklichkeit werden kann. Eine Tour der Impressionen, die sich tief ins Gedächtnis einbrennen werden. Und wer auf die motorisierten vier Räder gern verzichten möchte … kein Problem: Die Loire ist Radwanderland. Berge sucht man hier vergebens, was die Alterspanne der Pedalisten sehr breit fassen lässt. Und wer will, kann sich sogar das Gepäck von A nach B, von B nach C etc. transportieren lassen. Hier ist wirklich alles möglich.

Ob nun zu Fuß, auf zwei schmalen oder vier fetten Rädern oder gar in der Luft – die Reise an den Ufern der Loire wird zum Sinnesrausch erster Klasse. An dieser Stelle wird nicht auf ein einzelnes Schloss eingegangen. Die Auswahl erschlägt den Leser schlichtweg. Denn nicht nur die großen Hallen einstiger Macht, sondern auch die kleineren, teils Lustschlösser genannten, „Behausungen“ sind mehr als nur eine Einkehr wert.

Architektonisch ist jedes ein Juwel. Mal muss man näher herantreten, mal erschließt sich die Pracht erst bei der Beschau der Details. Wer will kann ja mal die Türme und Türmchen oder die Anzahl der Fenster zählen – ein dicker Block ist ratsam.

Dieser Reiseband steht den Schlössern in nichts nach. Eine Schatztruhe voller Reichtümer, die man vielleicht so erwartet hat. Aber wenn man sie vor sich sieht, ist man trotzdem bafferstaunt. So soll es ja auch sein. Beeindruckend ist im Buch die nicht minder aufsehenerregende Fülle an Tipps rundherum und zwischen den Perlen der Loire. Fakt ist, dass eine Reise entlang der Loire mit zahlreichen Abstechern zu den Schlössern, den Gartenanlagen, den Parks, inklusive Abbiegen nach Links und Rechts, den lukullischen Ereignissen, den phänomenalen Eindrücken mehr als nur ein Fotoalbum füllen kann. Es wird eine Reise sein, die man nie mehr vergisst. Auch dank dieses Reisebandes.

Die Flucht der Dichter und Denker

Es gab nicht viele, die mit dem 1979 veröffentlichten Disco-Hit der Village People „Go West“ etwas anderes verbanden als die sagenumwobene Freiheit in San Francisco. Es gab eine Zeit, in der Go West der einzige Weg war, um überhaupt gehen zu können. Es gab zu viele, die diesen steinigen Weg gehen mussten.

Als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen, gab es nicht wenige, die es für eine Frage der Zeit hielten bis der Spuk vorbei sei. Aber es gab auch die großen Mahner, die die dunklen Wolken nicht mehr nur am Horizont verorteten. Eine Massenflucht der Intellektuellen, Künstler, der Elite rollte an. Erst Frankreich, dann Spanien als Transitland nach Portugal. Dort wartete der erhoffte Dampfer in die USA. Hier war die Freiheit wohl grenzenlos. Dass dem nicht immer so war, erfuhren sie erst hinterher. Auch Jahre nach dem braunen Spuk wurden Widerständler unter der Fuchtel von Senator McCarthy mit Argusaugen beobachtet, bespitzelt und in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Der Weg, die Strapazen, die die Flüchtigen – Thomas, Heinrich, Erika und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen – sind oft beschrieben worden. Genauso oft aber blieben noch einige Fragen offen. Warum und an welchem Zeitpunkt wurde die Route bestimmt? Gab es Helfer? Herbert Lackner gibt in diesem Buch einige Antworten, die man so noch nie oder nur in Nebensätzen gelesen hat.

Es liest sich wie ein Krimi, wenn man von dieser Hetzjagd liest. Menschen, denen das Wohl eines ganzen Landes am Herzen lag, die sich zeitlebens der Kunst verschrieben hatten, die in ihrem Tun die Gegenwart als Basis ihres Schaffens verstanden, wurde die Lebensgrundlage entzogen. Ihr Freundeskreis war zersplittert, in alle Richtungen verstreut. Wiedersehen gab es nur sporadisch – umso heftiger die Freude. Denn überall lauerte Verrat. Misstrauen und Verzweiflung zerrütteten Allianzen.

Mit jedem Schritt gen Westen – im Osten lauerte Stalin, in Holland und Belgien war es ebenso unsicher wie im größten Teil Frankreichs und in Spanien warteten willfährige Helfer Francos auf fette Beute – wuchs die Hoffnung bald schon wieder einem halbwegs geregelten Tagwerk nachkommen zu können. Nicht jede Flucht war erfolgreich. Und die ersehnte Freiheit war auch nicht immer am ganzen Leib spürbar.

Man stelle sich vor wie die deutsche Kulturlandschaft heute aussehen würde, wenn die in diesem Buch so eindringlich beschriebenen Fluchtrouten nicht nötig gewesen wären…

Alles Eisen des Eiffelturms

Dieses Buch liest man nicht! Man flaniert durch dieses Buch hindurch. Sind die Füße ermattet, liest man es ein zweites Mal. Werden die Augenlider schwer, träumt man sich in ihm in die Stadt der Liebe, der Künstler, der Flaneure, des Lichts… Und eines Tages trägt am es in der Hand und tut es den Akteuren gleich. Dann, erst dann hat das Buch seinen Zweck mehr als erfüllt. Abgegriffen liegt in den Händen, die die Stadt einfangen wollen. Eselsohren sind die Leitpunkte der zahllosen Spaziergänge durch das Paris, das nicht mehr existiert. Ein Paris, das im Massentrubel ertrunken ist und mit immer wieder neuen erwachenden Angeboten um die Gunst der dürstenden Menge buhlt. Und sich dabei selbst stellenweise aufgibt.

Das Paris dieses Buches ist rund ein Jahrhundert jünger. Walter Benjamin und Marc Bloch. Geistige Väter – für manche Unruhestifter – eines Deutschlands, das in zwölf Jahren den Gegenentwurf zu allem Menschlichen liefert und in Tiefen stürzen wird, aus denen es bis heute nicht vollständig herausgeklettert ist.

Michele Mari ist der Marionettenspieler dieser zwei Köpfe, die in Paris als Passagiere der Verzweiflung gestrandet sind. Mit ihrem Willen gestrandet – ein Widerspruch? Mit Nichtem! Ihre Heimat ist nicht hier. Hier ist lediglich eine erste Endstation. Bis die Braunen und Grauen auch die Farbenpracht der Stadt an der Seine mit ihrem Schlamm bedecken. Es sind sie Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre zuvor. Sie lassen die beiden träumen, ackern, wünschen, hoffen, aber auch verzweifeln, argwohnen, frösteln, trauern. Ihre Bücher sind nur noch Asche. Ihre Namen Schall und Rauch. Doch nicht vergessen.

Sie treffen Menschen, die wir heute als Götter verehren. Namen wie Donnerhall, die in Paris das alte Paris der Künstler suchen, es zum Teil aufbau(t)en, es zu ihrem Paris machten. Und nun? Die Enge der Heimat schnürt Walter Benjamin die Kehle zu. Und bevor dies andere tun, ist er lieber Vertriebener in Paris als getriebener in Berlin. Marc Bloch wird das Versagen der französischen Streitkräfte beim Blitzüberfall der Wehrmacht auch Anfeindungen einbringen.

Michele Mari würfelt Realität und Fiktion derart durcheinander, dass dem Leser schwindelig wird. Hat man erst einmal begriffen, dass es unerheblich ist dies auseinanderhalten zu müssen, ist „Alles Eisen des Eiffelturms“ Pflichtlektüre für den nächsten Trip in die Stadt der Liebe.

Den Teufel im Leib

Mit nicht einmal zwanzig Jahren einen Skandalroman zu veröffentlichen, sich in Künstlerkreisen „herumzutreiben“ und eine gewichtige Zeitschrift zu gründen … macht sich immer gut im Lebenslauf. Auch wenn es, wie im Fall von Raymond Radiguet nur zwei Jahrzehnte dauert.

Gleich sein erster Roman – dieser hier – „Den Teufel im Leib“ schlug ein wie eine Bombe. Ein moralischer, moralisierter, moralisierender Aufschrei. Wie kann er nur?! Ein Fünfzehnjähriger verliebt sich in eine ein paar Jahre ältere Frau. An sich nicht weiter verwerflich. Doch der junge Bengel hält mit seinen Gefühlen nicht hinterm Berg.

François hat sich vom ersten Moment an in Marthe verliebt. Und Erfahrungen als Don Juan – wie ihn sein Lehrer einst mahnend nannte – hatte er schon früher. Und irgendwann ist auch Marthe dem Werben unterlegen. Und das obwohl ihr Verlobter im Feld für die Ehre Frankreichs kämpft. Es ist die Zeit der Grabenkämpfe und der ersten perfiden Versuche mit Giftgas das gegnerische Soldatenvolk zu schädigen. Und schon bald schleicht sich François aus dem elterlichen Haus, um nicht nur eine Nacht bei seiner Marthe zu verbringen. Die Notlüge mit der Wanderung zusammen mit seinem Freund platzt alsbald. Die Mutter ist entrüstet, der Vater schmunzelt nicht mit einem gewissen Stolz auf den Lippen.

François und Marthe sind kein Paar. Sie sind zwar zusammen, doch in der ländlichen Idylle sind derartige Liaisons schändlich. Wenn nicht sogar teuflisch! Aber vor allem nicht ohne Folgen…

Das Buch ist tatsächlich schon einhundert Jahre alt. Und erscheint nun in deutscher Sprache, in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Den kennen einige sicher als sprachbegabten Wortwisser der Sendung Karambolage auf arte. Mit Verve verleiht er dem Jubilar einen modernen Anstrich. In übermoralisierten Zeiten, in denen jedes Wort auf die Goldwaage gelegt zu werden scheint, kommen so manchem Moralapostel und leichtgläubigem Mitläufer einige Zeilen tatsächlich immer noch skandalös vor. Auch der Fortschritt hat eine Vergangenheit, auf die er gern zurückschaut…

Jean Cocteau zählte Raymond Radiguet zu seinen Freunden. Auszüge aus einigen Briefen und vor allem die typischen Cocteauzeichnungen vervollständigen zusammen mit Gedichten von Radiguet die Komplexität dieses Buches. Rasch liest man das Buch. Mit offenem Mund frisst man sich durch den Anhang. Mit weit aufgerissenen Augen staunt man über das kurze, ereignisreiche Leben des Autors. Und dann fängt man von vorn an. Immer wieder und wieder und wieder…

Das schwarze Trikot

Es ist jedes Jahr ein ganz besonders Schauspiel: Die Tour de France. Und ihre Skandale. Kurz bevor jeder in den Sommerurlaub verschwindet, rasen anfangs noch knapp zweihundert Radprofis auf profillosen schmalen Reifen die waghalsigen Abfahrten hinunter. Spektakuläre Kameraaufnahmen machen Lust auf die schönste Zeit des Jahres … und die Frage wen wird es dieses Mal erwischen? Der Drogensumpf Tour de France ist nicht wegzureden. Dafür sind die Skandale der Vergangenheit zu frisch und zu nachhaltig. Und die Recherchen mutiger Journalisten sind glaubhaft, und deswegen erschreckend. Und dennoch ist es ein Ereignis, das man sich anschaut.

In Jorge Zepeda Pattersons „Das schwarze Trikot“ geht es um die Frage wen es erwischt. Aber nicht darum, wer sich beim Doping auf die Finger klopfen lässt, sondern um die essentielle Frage von Leben und Tod. Denn im Fahrerfeld ist einer, der mit allen Mitteln versucht, sich das gelbe Trikot unter den Nagel zu reißen. Nun könnte man meinen, dass es ausreicht einfach abzuwarten bis nur noch einer übrig bleibt, der ist dann der Täter. Aber das wäre ja langweilig!

„Herr Moreau!“, so beginnt die aufregende Jagd nach dem Täter. Moreau ist Radprofi, Franzose, aufgewachsen in den Bergen von Medellin, Kolumbien. Er ist der Erzähler dieses Krimis. Der, der ihn anspricht ist ein Kommissar. Und so liest sich der Zwischenstand der Tour nach dem ersten Drittel fast schon wie eine Todesliste.

Im Vorfeld der Grand Tour sind einige potentielle Favoriten unter seltsamen Umständen um ihre Teilnahme gebracht worden. Ein Unfall, eine Überfall, eine Vergiftung und … wie sollte es anders sein … Dopinganschuldigungen. Da ist es nur verständlich, dass der momentan Führende, Teamkollege und Freund von Moreau ins Fadenkreuz des Attentäters und somit auch der Ermittler gerät. Und Moreau? Der soll undercover ermitteln? Oui! Ganz klar. Doch wie, wenn man „nebenbei“ noch das härteste Radrennen der Welt bestreiten soll, dem Teamkollegen und Freund die nötige Unterstützung geben will? Und irgendwie selbst sogar Chancen hat sich den größten Traum des Lebens erfüllen zu können. Nein, einfach ist anders. Und es wird immer schwieriger, je näher die letzte Etappe, die Triumphfahrt auf der Champs-Élysée rückt…

Das Gelbe Trikot ist das prestigeträchtigste Trikot der Radsportwelt, vielleicht sogar der gesamten Sportwelt. Das Schwarze wird einem genauso übergestreift, aber das will doch keiner haben. Denn es wird das Letzte sein, das einem verliehen wird. Mit Fachwissen über die Tour de France und einem feinen Gespür für Spannung kreiert der mexikanische Investigativ-Journalist Jorge Zepeda Patterson einen Sportkrimi, der Krimifans und Radsportenthusiasten gleichermaßen in seinen Bann zieht.

Brunos Périgord

Wer bisher noch nicht davon überzeugt ist, dass das Périgord eine der schönsten Landschaften der Erde ist, der muss nur die ersten Seiten dieses Buches aufschlagen – und ist im Handumdrehen vom Gegenteil überzeugt. Auf drei Doppelseiten verströmt die Landschaft im Herzen Frankreichs ihr komplettes Flair, ohne dabei alle karten auf den Tisch zu legen. Schließlich will der Erfolgsautor auf den folgenden knapp dreihundert Seiten noch überraschen …

Und das schafft er auch! Dort, wo sich das Grün der Natur noch frei entfalten kann, wo Obst und Gemüse Chemie nur als natürlichen Wachstumsprozess kennen, wo man ungestraft tief einatmen darf, liegen die Ursprünge dessen, was man gemeinhin als Paradies bezeichnet. Martin Walker versteht exzellent seine vor Jahren neu gefundene Heimat in Szene zu setzen. Natürlich fallen einem als Erstes die beeindruckenden Bilder in Auge. Historische Gemäuer, die Vielfalt und Pracht aus Mutter Naturs reichhaltigem Schoß und Ausblicke, die niemals enden dürfen (und es auch nicht tun) – wem das nicht die Sehnsucht packt, ist selber schuld. Doch Martin Walker wäre nicht Martin Walker, wenn er nicht in dem ihm eigenen Stil diesem Füllhorn der Emotionen nicht noch die Krone aufsetzen würde.

Noch immer kann er sich wie ein kleines Kind an Weihnachten an seinem Périgord erfreuen. Bis heute entdeckt er immer wieder Neues. Doch er behält es nicht für sich. Er teilt mit dem Leser seine Neunetdeckungen und nimmt den Leser mit zu Freunden auf ein Glas Wein oder unternimmt mit ihm Expeditionen in die Geschichte. Schließlich findet man im Périgord Hinterlassenschaften aus mehr als einer Viertelmillion Jahre! Wenn der Morgendunst noch über den pittoresken Dächern der Ortschaften wie eine zarte Schicht liegt, die Sonne alle Anstrengung aufbringen muss, um dem Tag das entsprechende Licht zu verleihen, ist Martin Walker schon auf den Beinen. Hier und Da knackst es unter den Sohlen, die leise den kommenden Tag begrüßen. Und hat Klara erst einmal das morgendliche Dickicht durchbrochen, erstrahlen Fassaden in den schimmerndsten Farben. Vorbei an den ältesten Comic Strips der Welt, nimmt Martin Walker den Leser mit auf seine Reise durch sein Périgord.

Prunk und Pracht werden hier nicht zelebriert, sie sind einfach da. Schon nach wenigen Seiten, erfüllt einen der Wunsch, dass dieses Buch niemals ein Ende haben soll. Doch der Punkt, der das Ende dieses Prachtbandes besiegelt muss kommen. Leider! Doch was hält einem davon ab dieses Buch immer wieder zur Hand zu nehmen, um darin zu blättern?! Eigentlich nichts. Es sei denn der neue Fall von Bruno Courrèges, chef de police, führt den Leser ein ums andere Mal in die Abgründe der menschlichen Seele und durch das Paradies gleichermaßen.

Wie man lebt, so stirbt man

Émile Zola – und daran gibt es keinen Zweifel – würde heutzutage mit Pomp und Glamour beigesetzt werden. Sein Leben und Werk hingegen waren wenig glamourös, und schon gar nicht pompös. Ist der Titel des Buches also schon deswegen eine Irreführung? Nein! Er sorgt jedoch bis heute für Furore. Als politischer Journalist war er redegewandter Ankläger und Verfechter der Ideale der französischen Revolution, die nicht nur seiner Meinung nach mit immer öfter mit Füßen getreten wurden. In seinen Romanen bildete er das harte Leben derer ab, die die Maschinerie einer Gesellschaft am Laufen hielten. In der DDR wurde sein Werk als Initial des Arbeiterromans gepriesen.

Die fünf kurzen Geschichten in diesem Buch handeln nicht vorrangig vom Tod. Vielmehr sind es teils amüsante Betrachtungen derer, die einen Verlust zu betrauern haben. Dass sie nicht immer trauern, sondern mit „ganz alltäglichen Sorgen“ kämpfen, ist verständlich, aber manchmal eben auch ein Blick durchs Schlüsselloch der Anderen.

Wenn also eine Witwe ihre sorglosen drei Söhne ein letztes Mal mehr oder weniger auf die Probe stellt, treibt es dem Leser schon mal ein Lächeln ins Gesicht. Denn die Drei taten und tun sich nicht durch heroisches Handeln hervor. Das Erbe des Vaters haben sie im Handumdrehen durchgebracht, leben wieder bei der Mutter. Doch auch deren Tage sind gezählt. Ein neuerliches – zu verprassendes Erbe wie einst bei Papa – ist nicht zu erwarten. Vor der Ernte steht die Saat. Und die wird nicht einfach.

Es liegt Émile Zola fern nur über die zu berichten, denen es nicht nur auf dem Papier gut geht. Finanziell gesehen. Wie in der Geschichte über ein Paar, das bei fast Null begann. Durch harte Arbeit und Zielstrebigkeit, Entbehrungen und Verzicht füllte sich das Portemonnaie. Doch wir alle wissen, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Und so bleibt dann doch nur die Erkenntnis: „Wie man lebt, so stirbt man“.

Zum Einen ist Band Vier der Reihe Edition de Bagatelle, in der Kleinode der Großen von Damals eine neue Heimat finden, ein gefundenes Fressen für die, die im Kleinen das Große erkennen. Zum Anderen ist es eine Möglichkeit Altes im neuen Gewand zu präsentieren. Die kurzweiligen Geschichten bekommen durch die Handschrift von Vera Gereke, Studentin an der HAW Hamburg ein künstlerisches Gewand, das auch dem Autor sicherlich gefallen hätte. Die sparsame Verwendung von Schwarz, Weiß und orange spielen mit den Emotionen des Leser. Mal fast schon bedrohlich, mal liebevollen Frieden verheißend, sind die Abbildungen das kunstvolle Abziehbild der Texte Émile Zolas.

Erfüllung

Auch das Unglück braucht seinen Raum, um sich entfalten zu können. Da ist nur wenig Platz für die Dinge, die glücklich machen. Michèle Akli, 38, Französin im Algerien des Jahres 1977, versucht ihre Gedanken in einem Heft festzuhalten. Und zwar in der Hoffnung, dass sich das Unglück nicht allzu sehr ausbreitet und das Glück bald schon wieder Einzug in ihr Leben hält.

Vor fünfzehn Jahren ist sie mit ihrem Mann Brahim in sein Heimatland gekommen. Algerien hatte sich entbehrungsreich von der einstigen Kolonialmacht Frankreich gelöst. Ein guter Zeitpunkt zurückzukommen. Für Brahim. Algier ist die neue Heimat. Erwan ist der Sonnenschein in der Dunkelheit von Michèles Leben. Ihren zehnjährigen Sohn betrachtet sie so oft es geht. Sie verfolgt wie sich sein Körperbau verändert, malt sich aus welch prächtiger Mann er einmal sein wird. Doch sieht sie auch die Veränderungen in seinem Wesen. Als Bruce in Erwans Leben tritt, macht sich Angst breit bei der mittlerweile desillusionierten Michèle. Ist Bruce die erste Liebe in Erwans jungen Leben? Bruce ist ein Mädchen, das bemerkt Michèle erst später. Die beiden – Erwan und Bruce – nebeneinander, von der Ferne wie zwei Jungen, die beschlossen haben die Welt zu erkunden und eines Tages aus den Angeln zu heben. Michèle ist besorgt. Wird Bruce Erwan ihr entreißen? Wird sich der Sprössling von ihr loslösen? Bruce ist eine greifbare Gefahr. Doch wofür?

Ebenfalls spürbar, doch viel subtiler ist die Situation in Algerien. Der Freiheitsgedanke ist religiösem Regelwerk gewichen. Telefonate werden abgehört. Auf der Straße wird man beobachtet, sogar verfolgt. Und Brahim … der ist einfach nur noch der Mann, den sie einmal innig liebte. Verlangen – Fehlanzeige. Vielmehr genießt sie die unbeschwerte Zeit mit Erwan, erforscht ihren Garten, beobachtet den Himmel, sehnt sich nach der Freiheit, die immer so selbstverständlich war. Michèle beklagt sich nicht, sie nimmt wahr. Und ihr Tagebuch ist letztendlich der klägliche Rest Freiheit, der ihr geblieben ist. Die Pakete aus ihrer Heimat sind Trostpflaster, die sie zu gleichen Teilen belasten und hoffen lassen.

Die Sorge um den Verlust Erwans lässt sie immer mehr Schreckensszenarien ausmalen. Sie ist tief im Inneren eifersüchtig auf Bruce. Denn dieses kleine Mädchen kommt ihrem Sohn näher als Michèle jemals war. Nur ihr Tagebuch hält die Lunte davon ab sich ihren Weg zur Explosion zu suchen. Bei all den Gedankengängen entgeht Michèle die enorme Kraft zu lieben, die in ihr steckt. Die Gedanken an Catherine, ihre Freiheit, ihr Talent sind bloße Projektionen. Tief im Inneren empfindet sie Liebe für Catherine, Bruce und selbstverständlich ihren Sohn Erwan. Sie kann es nur nicht immer erkennen und akzeptieren. Dann erkennt Michèle, dass Fassaden auch bröckeln können…

Nina Bouraoui verweigert nur scheinbar ihrer Protagonistin das Glück, die Erfüllung, die ihr unweigerlich zusteht. Es ist ein dorniger Weg zur Erkenntnis, dass das Glück niemals mit Pauken und Trompeten an die Tür klopft. Erst der selbst gewählte Weg verheißt Linderung im schmerzhaften Gerangel um das Glück. Und das Glück der Anderen bringt oft selbst den Stein ins Rollen, der die Erfüllung bringt.