Archiv der Kategorie: Rund um den Ätna

Palermo ist eine Zwiebel

Eine Frage sollte man sich während und nach der Lektüre dieses Buches auf gar keinen Fall stellen: Ist Palermo noch ein Reiseziel für mich? Verzichten, weil man hier lieber die erhaltene Hälfte abreißt, statt die zerstörte Hälfte wieder aufzubauen? Verzichten, weil erstmal ewig diskutiert wird, wer, was, wie in Ordnung bringt (klingt wie deutsche Politiker bei der Lösungsfindung der Coronakrise!)? Nein, denn das Chaos hat System. Ein System, das funktioniert. Und weil die Stadt allen Klischees und Vorurteilen zum Trotz mehr Herz hat, als so mancher Werbeslogan anderswo.

Roberto Alajmo ist Palermitano, wurde hier geboren, lebt hier. Er kennt seine Stadt, er liebt sie. Und er sieht wie sie wirklich ist und wie sie sich verändert hat. Und wenn man ganz ehrlich ist, soll Palermo wirklich aussehen wie eine gentrifizierte, durchgestylte Metropole, die aussieht wie jedes stinknormale Kaufhaus auf dem Planeten? No, alles nur das nicht!

Zwölf Kapitel widmet er Palermo, zwölf Rundgänge zwischen den einzigartigen Fassaden bis hinein in die Köpfe und den Bauch der Palermitani.

Alajmo beginnt mit der Charakterisierung der Einwohner Palermos, den Palermitani. So vielfältig die Arten des Caffes, den man hier nicht trinkt, sondern zelebriert, so vielschichtig sind die Palermitani selbst. Eine gewisse Faulheit könne man ihnen, wie allen Sizilianern, unterstellen. Doch nicht nach dem Motto „das können die Anderen machen“. Sie treibt vielmehr der Drang an sich mitzuteilen, das eigen Wissen in die Problemlösung einfließen zu lassen. Dass dabei auch mal ein paar Jahre ins Land ziehen können, nimmt man gelassen hin.

Nur beim Essen gibt es keine zwei Meinungen. Es gibt sogar mehrere. Jeder Stadtteil, jede Straße, jedes Haus, jede Familie kennt ihr eigenes Rezept für ein und dieselbe Sache. Abwechslung auf dem Teller ist also garantiert. Und immer schön auf sich selbst stolz sein. So sind sie die Palermitani!

Was zunächst als Abrechnung zu beginnen scheint, wandelt sich mit jedem Umblättern zu einer offensichtlichen Liebeserklärung. Die direkte Ansprache an den Leser, der sich Palermo ansehen möchte, oder vielleicht sogar schon im Hotel auf dem Bett in dem Buch blättert, lässt keinen Widerspruch zu. Palermo muss man gesehen – wozu sonst soll man auf dieser Welt sein?! Schicht für Schicht schält sich eine einzigartige Welt aus sich selbst heraus. Tränen fließen keine. Denn Roberto Alajmos Worte sind das schärfste Messer, das durch die Zwiebel Palermo gleitet.

Ferdinandea. Die Insel der verlorenen Träume

Bei historischen Romanen muss man sich immer in Acht nehmen, dass man die Fiktion nicht der Realität gleichsetzt. Daten und Fakten sind heutzutage so leicht recherchierbar, dass der kleinste Fehler schon den Ruf des gesamten Werkes ruinieren kann. Armin Strohmeyr wird sich diesem Vorwurf nicht aussetzen müssen. Das liegt zum Einen an den exakt aufgearbeiteten Fakten, zum Anderen an der Geschichte selbst. Schon mal auf Ferdinandea gewesen? Wer jetzt ja sagt, braucht ganz schnell eine Ausrede. Wie zum Beispiel, „Ja, mit dem Finger auf der Landkarte.“. Zu mehr wird es nicht reichen. Denn Ferdinandea gibt es nicht! Nicht mehr.

Es ist Juli im Jahr 1831. Ein paar Meilen südlich von Sizilien. Da erhebt sich – tosend, grollend, leise, fast unmerklich … wie auch immer – eine Insel aus dem Meer. Ferdinandea wird sie genannt werden. Und damit beginnt auch schon das Unheil!

Ein neues Stück Land weckt Begehrlichkeiten. Das war so, das ist immer noch so, und so wird es wahrscheinlich auch bleiben. In Sichtweite liegt die Stadt Sciacca. Dort ist das Leben kein Zuckerschlecken. Weder für Fischer, für alleinerziehende Frauen, auch nicht für Vermieter von Ferienunterkünften. Was man da alles machen könnte?!

Doch den Einheimischen, was sie ja eigentlich noch nicht sind, denn die Insel ist ja gerade erst entstanden, stehen ganz andere Mächte entgegen. Das British Empire bringt auch schon seine Flotte in Stellung. Ein Stück Land mitten im Mittelmeer, mitten auf den Handelsrouten für Maschinen, Weihrauch, Oliven, Wein und Gewürze – da lecken sich die Strippenzieher der Geldvermehrung die Finger.

Überall auf der Welt staunt man nicht schlecht über dieses Naturereignis. Mitten im schönsten Sommer taucht da plötzlich ein neues Eiland auf. Träume könnten wahr werden. Hoffnung keimt auf. Die Gelehrten von Weimar bis Neapel, von London bis sonst wohin sind baff ob dieser Sensation. Auch sie spekulieren, was alles hier erstehen kann.

Doch der Spuk ist bald vorbei. An Weihnachten sieht man am Horizont wieder das, was bis Juni 1831 zu sehen war: Horizont und Wasser. Nicht mehr und nicht weniger. In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts schafft es Ferdinandea noch einmal in die Schlagzeilen. Allerdings zensiert. Als ein amerikanischer Bomberpilot sich gen Tripolis auf den Weg macht, um befehlsgetreu Gaddafi für den feigen Anschlag auf die Berliner Discothek „La Belle“ den Hintern zu versohlen, macht er ein U-Boot ausfindig. Er bombardiert es. Und erntet schallendes Gelächter für den Angriff auf einen Felsen, der rund einhundertfünfzig Jahr zuvor keck seine Nase aus dem Meer erhob. Heute liegt Ferdinandea rund acht Meter unter der Wasseroberfläche. Anfang des Jahrhunderts wurde eine Marmortafel angebracht, um an die Ereignisse im Juli 1831 zu erinnern – und um darauf hinzuweisen, wem die Insel gehört, Sizilien und den Sizilianern – doch auch die wurde mittlerweile zerstört. Was vor 190 Jahren begann, ist also immer noch nicht zu Ende…

Agata und ihr fabelhaftes Dorf

Wo gestern noch das Feuer des Kampfes loderte, liegt heute der kalte Körper von Costanzo Di Dio, dem Tabacchere in dem kleinen sizilianischen Ort. Gestern noch, oder besser: Bis gestern noch scharwenzelten der Bürgermeister Don Pallante und seine Kumpane um ihn herum. Sie wollten sich unbedingt Saracina, ein idyllisches, vor allem aber unfassbar wertvolles Stück Land unter den Nagel reißen. Doch der Kommunist Costanzo blieb stur. Keine Unsumme der Welt würde er akzeptieren und das Land, auf dem einmal seine Kinder und Kindeskinder spielen sollen hergeben. Und schon gar nicht dem Faschisten Pallante.

Jetzt ist der letzte Funken Lebensgeist aus Costanzos Körper gewichen. Die Trauerfeier ist pompöser als es ihm liegewesen sein könnte. Doch die Leichenfledderer stehen schon Schlange. Siekreisen um die schöne Agata. Jung, in der Blüte ihres Lebens. Die Frauen des Dorfes neiden ihr das Aussehen und den Status der jungen Witwe, die es über Kurz oder Lang mit der Moral sicher nicht mehr so ernst nehmen wird. Auch der Bürgermeister streckt seine klebrigen Finger nach ihr aus. Was bisher nur im Verborgenen blieb, tritt nun allzu deutlich zutage. Er will Agata endlich erobern. Wegen ihr. Und wegen des Anwesens. Die geplante Mülldeponie ist profitabel.

Pallante, den alle wegen seiner auffälligen Augen nur occhi janchi, weiße Augen, nennen, bietet willfährigen Helfern sogar hochbezahlte Jobs in der Umgebung an. Qualifikation wird ja eh überbewertet. Dieses Helfer haben es aber bis jetzt nicht geschafft, das begehrte Land in den Besitz von occhi janchi überzuleiten. Jetzt scheint die Gelegenheit gekommen, Saracina endgültig vereinnahmen zu können. Die junge Witwe hat momentan sicher andere Sorgen als den Kampf um ein Stück Land…

Dass die Aasgeier sich irren, steht schon während der Prozession fest. Vor der Parteizentrale der Bürgermeisters Pallante bleibt Agata kurz stehen und … spuckt aus. Sie wird für ihren Laden kämpfen (müssen). Sie wird für Saracina kämpfen (müssen). Sie wird jedem Widersacher mehr als nur die Stirn bieten (müssen). Mit Toni Scianna, dem Lehrer – auch schwer verliebt in die bezaubernde Agata – und Lucia, ihrer besten Freundin hat sie Verbündete an ihrer Seite, auf die sie bauen kann.

Verehrer und Feinde sind von nun an im Leben von Agata die Konstanten im Alltag. Ihre Feinde sind zu allem bereit. Das emotionale Band zu ihren Freunden wird immer wieder gespannt, doch es hält.

Tea Ranno gelingt es spielerisch den schmalen Grat zwischen kitschiger Idylle am Meer und akurat gezeichneter Verhältnisse in dem fiktiven sizilianischen Dorf nicht zu verlassen. Mit dem Maresciallo Andrea Locatelli kommt Hilfe von ungeahnter Seite. Ihm sind die Machenschaften des Bürgermeisters und seiner Bande ebenso ein Dorn im Auge, den man besser heute als morgen herauszieht. Das fabelhafte Dorf von Agata strotzt vor Liebe. Aber eben auch vor Hass und Gier. Agata wird ungewollt zu einer zentralen Figur in einem Spiel, das durchschaubar ist, dessen Regeln aber immer wieder gebrochen werden. Und genauso oft gebrochen werden müssen.

Einmal in Sizilien

Einhundert Jahre wäre Leonardo Sciascia 2021 geworden. Vor fünfundsechzig Jahren sind diese Geschichten erstmals erschienen. Grund genug Werk und Autor in diesem kleinen roten Büchlein gebührend zu feiern. In fünf Geschichten erzählt er vom harten Leben in den Schwefel- und Salzminen, von gewissenlosen Landbesitzern und dem Kampf gegen die Korruption und fängt dabei Siziliens Geschichte ein.

Siziliens Geschichte ist voller Trauer, Blut und Gewalt. Das wissen wir nicht erst seitdem Michael Corleone in „Der Pate“ seiner Kate seine Heimat (und so ganz nebenbei sein Leben) erklären will. Leonardo Sciascia gebührt der Ruhm diese Erkenntnis in die Welt hinaus getragen zu haben. So berichtet er vom grausamen Tod des Don Girolamo del Carretto. Der wurde im Mai 1622 von seinem Knecht gemeuchelt. Nicht ganz zu unrecht. Wenn man das Prinzip  „Auge um Auge“ zugrundelegt. Denn der Graf war ein raffgieriger Herrscher. Die Steuern wurden nach Belieben erhoben und mit Brutalität eingetrieben. Einen Vertrag mit den Bewohnern von Regalpetra – dem fiktiven Ort, in dem diese fünf Geschichten angesiedelt sind – beugte er auf schändliche Weise. Gegen eine Einmalzahlung sollten seine Untertanen für alle Zeit von allen finanziellen Belastungen befreit werden. Man zahlte, doch der Graf erhob fleißig weiter Steuern bzw. Abgaben. So ist das eben in Sizilien, wenn Verträge nicht eingehalten werden. Andernorts regt man sich nur darüber auf, resigniert und ergibt sich in fatalistischer Phrasendrescherei…

Jahrhunderte später kamen die Faschisten vielen Sizilianern, vorrangig den Einwohnern von Regalpetra wie Heilsbringer vor. Man arrangierte sich. Die Mahner wurden mundtot gemacht. Doch auch hier wurde man sich schnell bewusst, dass die endgültige Erlösung einem perfiden Blendwerk Platz machen musste.

Später als Lehrer .. man kann es sich denken. Wer sich geschickt durchs Leben mogelt, kommt auch ans Ziel. Nicht selten gewissenlos, aber zumindest mittelfristig einigermaßen glücklich. Was kann man tun? Nichts Offensichtliches. Die Hoffnung, dass der Missetäter einer höheren Macht Antwort geben muss, lindert den Schmerz.

Sciascia beschreibt nicht die glanzvollen Fassaden der Paläste, ihm ist das einfache Volk mit seinen Sorgen und Nöten näher. Der Poesie, die seinen Geschichten innewohnt, tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die Hoffnungslosigkeit und die oft vergebene Mühe eine Wendung herbeizurufen, ist mindestens genauso spannend wie ein Spaziergang durch die aufgeräumten Gärten Siziliens.

Voci di sicilia

Ein Land bereist man, weil man die Architektur sich ansehen will. Oder wegen der erholsamen Strände. Oder der abwechslungsreichen Geschichte. Weil man einen außergewöhnlichen Berg besteigen oder generell gern neue Landschaften erkunden will. Oder man will Orte besuchen, die man aus Filmen kennt und die einen sofort in den Bann ziehen. So wie es Sizilien macht. Ob man nun auf den Spuren des Paten wandelt, die wundervoll eingefangenen Drehorte von Wim Wenders‘ „Palermo shooting“ noch einmal abgeht, sofern man sie findet, die größte Insel des Mittelmeeres geizt nun wirklich nicht mit ihren zahlreichen Reizen. Und Sizilien bietet noch einen Grund mehr es zu bereisen: Die Stimmen des Landes, die Stimmen Siziliens.

Es sind bestimmt keine Stimmen, die sich hinter Zypressen verstecken. Sie treten ins Rampenlicht und künden vom Reichtum der Insel. Allen voran Etta Scollo.

Schon im ersten Kapitel über ihre Geburtsstadt Catania begreift man im Handumdrehen die Verbundenheit der Sizilianer zu ihrer Heimat. Ihre Umarmungen der nonna, der Oma, verwandeln sich im Nu in greifbare Erinnerungen. Einen weitaus nüchterneren Blick auf die Stadt hat dagegen Ambra Monterosso. Sie war jahrelang bei der Staatspolizei in Catania. Das Klischee der familienbewussten wischt sie mit wenigen Zeilen vom Tisch. Auch wenn sich die Mafia mittlerweile weniger offen darstellt, ist sie immer noch vorhanden. Was aber nichts am Reiz der Stadt ändert. Doch was wäre, wenn es keine Mafia gäbe? Dann wäre das Bild Catanias noch eindrucksvoller. Das macht sie nicht nur zwischen den Zeilen klar.

Etta Scollo gibt ihrer Heimat Sizilien, die sie einst verließ, um wiederzukehren mehr als nur eine Stimme. Von Palermo über Messina bis nach Caltanissetta eilt der Sängerin und Komponistin der Ruf als führende Stimme der Insel voraus. Bereitwillig breiten Schriftsteller, Philosophen und Politiker. Wie zum Beispiel Leoluca Orlando, der immer wieder gewählte Bürgermeister Palermos.

Noch ein Tipp: Das Buch gibt es in zwei Ausführungen. Unbedingt die Ausgabe verwenden, der eine CD mit Liedern von Etta Scollo beigelegt ist. Ihr glockenklare Stimme, ihr Timbre, ihre unvergleichliche Ausstrahlung gibt dem Buch den richtigen klangvollen Rahmen. Von ganz leisen Klängen bis hin zum stimmungsvollen canzone, das einen einfach nicht stillsitzen lässt, erklingt Sizilien in der ganzen Vielfalt seiner Bewohner. Ein Buch, das die angeordnete Quarantäne versüßen kann. Ein Buch, das Appetit macht sicilia umgehend zu bereisen und den Stimmen zu lauschen. Ein Buch, das niemanden unberührt lässt!

Der unschickliche Antrag

„Ich hätte gern einen Telefonanschluss, aber ein bisschen pronto, wenn es geht.“ Den Spruch hat man vor Jahren des Öfteren gehört. In Italien hat das Wörtchen „pronto“ eine weitere Bedeutung. Wenn man sich am Telefon meldet, verwendet man es. Doch wenn man der Erste ist, der ein Telefon samt Anschluss beantragt, in Sizilien, im Jahre 1891, also vierunddreißig Jahre bevor der Autor des Buches ebenda geboren wurde, dann ist das schon eine Geschichte wert. Und die kann von keinem anderen geschrieben werden als vom Großmeister des hintersinnigen Humors selbst: Andrea Camilleri.

Im Fußball nennt man es Rudelbildung, und es wird unnachgiebig mit einer gelben, im Ernstfall auch mit einer roten, Karte geahndet. Im hier vorliegenden Fall müssen sich alle Parteien – dieser Vergleich ist nicht unwillkürlich – irgendwie einigen. Und wenn das nicht klappt, schmiedet man Allianzen, ob die nun als heilig oder unheilig zu bezeichnen sind, obliegt dem Leser höchstselbst.

Der Holzhändler Filippo Genuardi, von allen nur Pippo genannt, will einen Telefonanschluss für den privaten Gebrauch. Die monatlichen Schreiben an den Präfekten von Vigáta sind an Unterwürfigkeit kaum zu überbieten. Man stell sich vor, dass man heute solche Anträge schreiben würde – der Großteil der empfangenden Sachbearbeiter wäre überfordert, zumindest würden sie sich auf den Arm genommen fühlen. Wozu braucht Pippo einen Telefonanschluss? Dazu noch für den privaten Gebrauch. Nicht einmal die Stadtoberen besitzen solch eine Errungenschaft. Pippo kämpft auf verlorenem Posten. Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Er wird proaktiv, wie man es heutzutage huldvoll nennen würde. Denn er kennt so manches schmutzige Geheimnis von Leuten, die ihm helfen könnten sein Ziel zu erreichen. Weil die jemanden kennen, der jemanden kennt, … etc. etc. Man kennt das vielleicht aus eigenen Erfahrungen?

Pippo ist schon eine echte Marke. Er ist weit und breit der Einzige, der einen Phonographen besitzt. Vor Kurzem hat er sich sogar einen Vierräder besorgt. Extra für ihn importiert aus dem feinen Paris. Auf Deutsch: Er hat sich ‘ne Karre besorgt. Französisches Fabrikat. Und das mitten in Sizilien. Dort, wo weit und breit nichts als Natur und Landschaft ist. Hier wird gearbeitet, gedarbt, geflucht, und ein bisschen gelebt. Luxus ist für andere da. In Sizilien sieht man zu, dass man mit dem Hinterteil die Wand berührt. Was passiert aber, wenn die eine Hand die Andere wäscht? Werden Träume wahr?

Andrea Camilleri zieht mit der Wortwitzpeitsche über das karge Land. In und zwischen den Zeilen blitzt es an jedem Wortende auf: Das raffinierte Spiel um Macht mit den Werkzeugen der Mittellosen. Was man weiß, muss man nicht preisgeben. Die Andeutung allein reicht, um dem Gegenüber ein mulmiges Gefühl zu geben. Der darf sich nun darum kümmern der Misere den eigenen Stempel aufzudrücken. Als Außenstehender erlebt man ein Schauspiel erster Güte.

Die Mühlen des Herrn

Is‘ doch ganz nett hier! Ein hübsches Häuschen, geschmackvoll eingerichtet. Hier lässt es sich aushalten. Giovanni Bovara ist als Mühleninspekteur nach Vigata geschickt worden. Hier wurde er geboren, doch schon im Alter von ein paar Monaten zogen er und seine Eltern in den Norden. Das Haus, in dem er bis zur Beendigung seiner Inspektion wohnen wird, gehört Donna Trisìna Cicero. Sie ist Witwe. Ihr Gatte hinterließ ihr eine ganze Menge irdischer Schätze. Mit allem anderen wurde sie von Mutter Natur gesegnet. Und das nicht zu knapp.

Das ist Padre Artemio Carnazza auch schon aufgefallen. Ihm gelüstet dann und wann nach Donna Trisìna. Sie lässt es geschehen. Aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Und auch nur für einen entsprechenden Gegenwert! Silberlöffel, Betttücher etc. So staffiert sie unter anderem auch die Wohnung des Mühleninspektors aus. Bald schon wird auch einen funkelnden Kerzenleuchter bekommen. Denn der Padre ist auf einen besonderen (ihm lange verwehrten) Handel eingegangen.

Schon bei seiner Ankunft wird Giovanni Bovara mit den örtlichen Gepflogenheiten vertraut gemacht. Als Inspekteur des Staates darf er selbstredend keine Geschenke in Empfang nehmen. Es empört ihn umso mehr als er von Don Cocò Afflitto zum Essen eingeladen wird. Was er nicht minder empört ausschlägt. Seiner Arbeit will er nachgehen, nicht in irgendwelche Geschäfte, Intrigen oder ähnliches hineingezogen werden. Doch weit gefehlt!

Schon bald ist Bovara mitten im Geschehen. Er erfährt nach und nach wie die Dinge hier laufen. Der Padre und sein Cousin stehen im ewigen Streit. Geldverleih und Kanzelreden sind hier einerlei. Frömmigkeit und Sündenfall liegen hier so eng beieinander wie nirgends anders. Wer einen Vorteil für sich sieht, beißt auch gern mal die Hand, die einen füttert. Doch Vorsicht! So ein Biss kann tödlich sein!

Das wird der Padre am eigenen Leib erfahren müssen. Zufällig ist gerade auch der Mühleninspekteur zur Stelle. Röchelnd bekundet der Sterbende Padre dem gewissenhaften Bovara seinen Mörder. Blöd nur, dass Bovara des Dialektes nicht ganz Herr wird. Will der Sterbende ein Kissen oder war es sein Cousin, der ihm die tödliche Kugel verpasste? Für die Behörden – je nachdem wessen Hand sie gerade halten oder beißen – sind eifrig bei der Sache. Denn es gilt die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Dass dabei auch gleich noch das Verschwinden einer Mühle ans Tageslicht kommt, macht es allen Beteiligten nicht einfacher…

Andrea Camilleris Geschichte fußt auf einer wahren Begebenheit. Er nimmt sie zum Anlass seiner sizilianischen Heimat einmal mehr ein literarisches Denkmal zu setzen, dass den Leser in ein Land führt, dessen Beben unter der Oberfläche nur allzu oft falsch verstanden wird. Es brodelt allenthalben. Und die Mühlen des Herrn mahlen … wie auch immer … sie mahlen!

Die Sekte der Engel

Palizzolo, Sizilien, 1901. Siebentausend Einwohner werden von einer Handvoll Barone und Grundbesitzer regiert. Und einem Mafioso, dessen Namen aber keiner aussprechen will. Ach, was soll’s, is ja nur Fiktion: Sein Name ist zù Carmineddru. Man lebt so vor sich hin, regelt in erlauchtem Kreis, was zu regeln ist. Nur Matteo Teresi, der Anwalt, passt nicht so recht ins Stadtbild. Seine aufwieglerischen Schriften in seiner von ihm verlegten Zeitschrift stören das Gleichgewicht in den Gemeinden. Allen Pfarrern, allen ehrenwerten Leuten ist er ein Dorn im Auge. Dem kleinen Mann hingegen ist er ein Segen. Ein Segen, den sie von höherer Stelle niemals zu erhoffen wagten, gingen sie auch alle noch so fromm und regelmäßig in die Kirche.

Nun begab es sich zu dieser Zeit – ach ja, so ganz erfunden ist die Geschichte gar nicht, Andrea Camilleri bedient sich ein weiteres Mal in der Geschichte seiner sizilianischen Heimat – dass ein wenig Aufruhr Palizzolo ergriff. Die Cholera verbreitet sich schlagartig. Viele verlassen ihre eigenen vier Wände. Bis sich herausstellt, dass eigentlich gar nichts passiert ist, um eine derartige Stadtflucht auszulösen. Aus Respekt und aus Berufsethik hat der Doktor, der plötzlich mehrere gleichlautende Diagnosen stellen musste, den Mund gehalten über die wahren Gründe seiner Hausbesuche. Auch gegenüber den Familien, die wiederum aus Unwissenheit das Gerücht eines Choleraausbruchs in die kleine Welt Palizzolos setzten. Der wahre Grund ist eigentlich ein erfreulicher. Gleich mehrere junge Damen sind schwanger. Und das seit zwei Monaten. Alle zur gleichen Zeit schwanger geworden. Alle jungen Damen schweigen sich über die Vaterschaft aus. Da stimmt was nicht! Doch was?

Montagnet, eine Ermittler aus dem Norden, einer nicht minder verlassenen Gegend wie Palizzolo, trifft auf eine Horde Verdächtiger und schweigsamer Wissender. Auf Mörder und Ermordete. Auf Vergewaltiger und Vergewaltigte. Alle schweigen und versuchen nur die Ordnung im Ort wieder herzustellen. Und dann noch der Aufwiegler Teresi, der seine politischen Ambitionen verfolgt und dabei in ein Wespennest sticht, das weder der Leser noch der Ermittler sich vorzustellen wagen. Denn die wahren Schuldigen dienen …

Andrea Camilleri lässt kein gutes Haar an den Beteiligten. Sie handeln alle unter einem anderen Vorwand. Eigene Interessen weisen alle weit von sich. Doch tief im Inneren – allerdings nicht tief genug, dass man es nicht doch noch erkennen kann – tut sich ein Höllenschlund auf. Bei aller Abscheu schafft es Camilleri dennoch, dass dem Leser nicht schlecht wird. Das liegt zum Einen an der exakten Faktenlage, zum Anderen an der ihm eigenen Art zu schreiben.

Die Münze von Akragas

Das Aufregende an historischen Romanen – aufregend im Sinne von „sich aufregen“ – ist doch, dass die Autoren in ungehörigem Maße unsauber recherchierten und unbedacht die Gegenwart in der Zeitachse nach vorn verlagern. Bei Andrea Camilleri muss man sich da keine Gedanken machen. Die Legende der Münze von Akragas ist mehr als nur Hörensagen, die Münzen existierten tatsächlich. Die handelnden Personen hat sich der Autor ausgedacht, ohne dabei den Pfad der Realität zu verlassen.

Alles beginnt vor rund zweieinhalb Jahrtausenden. Akragas, das heutige Agrigent, wird von einer riesigen Streitmacht der Kartharger dem Erdboden gleichgemacht. Das konnte nur durch Verrat geschehen. Der Söldner Kalebas kann dem Gemetzel entkommen. Im Gepäck hat er seinen Goldschatz, der heutzutage als Portemonnaie bezeichnet werden würde. Denn jede der Goldmünzen entsprach genau einer Tagesration Weizen. Auf der Flucht beißt ihn eine Viper, was ungewöhnlich ist, da zu diesem Zeitpunkt sozusagen keine „Jagdzeit“ für Vipern ist. Einen Arzt kann er nicht rufen, ihn würde eh keiner hören. Sofern man noch davon sprechen kann, wirft er geistesgegenwärtig die Münzen so weit weg wie er noch kann.

Die Zeit vergeht, Wind, Schnee, Regen lassen Gras und andere Vegetation über die Sache und die Münzen wachsen. Bis im Jahr 1909 ein Bauer etwas Glänzendes bei der Verrichtung seines harten Tagwerkes entdeckt. Es ist eine Goldmünze mit einem Greifvogel, der einen Hasen erlegt und einer Krabbe auf der Rückseite. Die sagenumwobene Münze von Akragas ist durch Pflug und Zeit wieder ans Tageslicht zurückgekehrt. Der Bauer weiß auch schon wem er die Münze vermachen wird. Einem Arzt. Der hat ihm einmal vor der Schande der Amputation bewahrt.

Dieser Doktor erkennt sofort den Wert der Münze. Und jetzt beginnt ein Spiel um Münze, Mord und Meineid. Mit vielen Opfern, aufgetretenen Türen und dem ewigen Spiel mit der Moral. Und sogar einem echten König!

Andrea Camilleri waren seine historischen Romane die liebsten. Commissario Montalbano brachte ihm Weltruhm ein, doch Geschichten wie diese lagen ihm mehr am Herzen als alles andere. Und das spürt man in jeder Zeile. Hintersinnige Humor gepaart mit harten Fakten packen den Leser am Sinneszentrum. Münzjagd, Familiengeheimnisse, bürokratisches Wirrwarr, Untreue – ein Füllhorn menschlichen Versagens. Doch immer mit einem Schmunzeln auf den Lippen, das Camilleri unweigerlich beim Schreiben getragen haben muss. Anders lässt sich das Ergebnis seiner Gedanken nicht erklären.

Brief an Matilda

Es ist nicht vielen vergönnt die Urenkel beim Erkunden der Welt zusehen zu dürfen. Auch Andrea Camilleri fühlte sein Ende nahen. Doch Matilda, seine Urenkelin, durfte er noch in den Arm nehmen. Im Bewusstsein, dass auch seine Zeit begrenzt ist, er und Matilda sich wahrscheinlich nie ernsthaft miteinander unterhalten können, fasste er den Entschluss und verfasste einen – sehr langen – Brief an sie. Auch wenn sie ihn nicht sofort lesen könne, so soll er ihr, wenn die Zeit reif ist, Uropas Entscheidungen nachvollziehbar machen.

„Brief an Matilda“ ist das Resümee eines der größten Schriftsteller Italiens, Europas und der Welt. Die Schlichtheit der Worte fällt dabei gar nicht so sehr ins Gewicht. Matilda ist die Adressatin, sie soll ihn verstehen. Dass Andrea Camilleri die Welt an seinem Leben noch einmal teilhaben lässt, ist einmal mehr ein Indiz dafür, dass er ein Menschenfreund durch und durch war.

Auch er hatte dunkle Zeiten zu durchleben. Den Musolini-Faschismus durchschaute er rasch. Und er wurde Kommunist, was er bis ans Lebensende blieb. Auch das brachte ihm so manche Knüppel ein, der ihm zwischen die Beine geworfen wurde. Im Gegenzug hatte er aber auch Gönner und Freunde, die sein Talent erkannten und vor allem förderten, so dass er eine lebenslange Anstellung bei der RAI, dem staatlichen italienischen Rundfunk innehatte.

Seine Anfänge als Schriftsteller waren steinig und schwer. Bis ihm Montalbano über den Weg lief. Ein, zwei Romane. Mehr sollten es nicht werden. Doch die Fernsehserie und die Buchreihe ließen ihn umstimmen.

Von den Studentenrevolten der 68er über die Entführung des Ministerpräsidenten Aldo Moro bis hin zur Machtergreifung Berlusconis hat Andrea Camilleri die unterschiedlichsten Epochen Italiens miterlebt und teils mitbestimmt. Nur als Politiker wollte er sich nicht instrumentalisieren lassen. Ein Wahlerfolg wäre mehr als vorhersehbar gewesen. Doch wollte Camilleri nicht seine Leidenschaft – das Schreiben – an den Nagel hängen. Über hundert Bücher hat er geschrieben. Den Mund hat er sich allzu oft verbrannt. Mit der Mafia hat er sich angelegt. Mit einer Krimireihe erlangte er Weltruhm. Die historischen Romane waren ihm seine liebsten.

Jede Zeile, jedes Wort in diesem sehr langen Brief an seine Urenkelin Matilda sitzt unverrückbar. Es ist die Liebe, die in den Zeilen und sogar in den Zwischenräumen allgegenwärtig ist. Sie ist es auch, die man stets mit dem im Sommer 2019 verstorbenen Charmeur und Romancier in Verbindung bringen wird.

Der letzte Satz des Buches, in dem er Matilda auffordert ihm zu berichten, treibt einem die Tränen in die Augen. Denn Matilda lernt nun erst Lesen. Wann sie den Brief – dieses Buch – lesen kann, es verstehen kann, wird noch ein wenig dauern. Doch auch sie wird in dem Autor einen Menschen erkennen, den man gekannt, zumindest jedoch gelesen haben muss!