Archiv der Kategorie: Nordlichter

Großes Kino

Bis vor Kurzem war Carsten Wuppke noch engagierter Sozialarbeiter. Schon vorher, und jetzt noch mehr bekämpft er das System von innen. Als Sozialarbeiter kennt er die Schlupflöcher verteilt großzügig diese gekennzeichneten Landkarten. Doch eine Vorstrafe macht ihm nun den Garaus. Im Supermarkt kommt es dann zur Eskalation als ein Polizist in barschem Ton eine Kassiererin anpöbelt. Wuppke kann Ungerechtigkeit und Amtsmissbrauch nicht ausstehen und pöbelt gegen den Amtsträger zurück. Böser Fehler! Denn der will nun postwendend Wuppkes Legitimationspapiere sehen. Nisch mit Wuppke! Ab durch die Mitte. Raus uff de Straße. ‘Nen Mopedfahrer umgenietet, Ruff uffs Moped und wech. So weit so gut.

Der „ausgeliehene“ Roller gehört aber dem Chinesen, Ali al-Safa. Der hat in Berlin-Neukölln mehr zu sagen als so mancher Politiker. Sein Wort hat wirklich Gewicht. Und mit Wuppke versteht er sich ganz gut. Eine Hand wäscht die Andere – alles klar?

Der Chinese ist nun aber ganz und gar nicht angetan, dass Wuppke Salid den Roller unterm Arsch weggeklaut hat. Moment, von Klauen kann hier nicht die Rede sein, kontert Wuppke. Ali sieht das anders. Eine Wiedergutmachung würden die Wogen erheblich glätten. Wie soll das aussehen, fragen sich Leser und Wuppke. Ali will auf Solt, wie er sagt, gemeint ist Sylt, mal nach dem Rechten schauen. Ali wollte Land kaufen. Hat sich mit den örtlichen Verantwortlichen eingelassen. Doch nun herrscht Funkstelle zwischen Spree und Nordseestrand. Wuppke wird’s schon richten. Er kann reden. Kennt Schleichwege wie kein anderer. Doch so schnodderig Wuppke ist, so verflixt kompliziert ist die Sache mit dem Landkauf auf Sylt. Wuppke muss wohl zum ersten Mal in seinem Leben wirklich arbeiten. Und dann auch noch mit Nachdruck! Für Druck sorgt Ali al-Safa schon.

Wuppke hat sich inzwischen die politischen Gegebenheiten auf der Insel zu Gemüte geführt. Da ist eine Aktivistengruppe. Ein Beamter, der weiß wie man Aufträge so vergibt, dass das eigenes Mütchen stets kühl und die Brieftasche immer kurz vorm Zerbersten bleibt. Der kleene Sozialarbeiter aus Neukölln, der sich nie bei seinem Bewährungshelfer meldet, der die schiefe Schnauze zur Kunstform erhoben hat, pingpongt inzwischen im Spiel der großen und kleinen Ganoven vom feinsten Sandstrand bis zum Spreeufer. Ob det was wird? Zum Helden scheint Carsten Wuppke jedoch erst einmal nicht geboren…

Sascha Reh mit Wuppke eine echte Type. Mit der Mafia nimmt er es genauso auf wie mit dem Clan aus seinem Kiez. Listige Bauunternehmer und zukünftige Amtsträger können ihm zwar drohen, doch ernsthaft in Gefahr bringen, kann er sich nur selbst. Mit allerlei Anleihen beim Großen Kino (von E.T. bis Jackie Brown) und einer unschlagbaren Eloquenz schafft es Wuppke immer wieder zu beschwichtigen. Origineller kann ein Krimi nicht sein!

Bahnhöfe der Welt

Barcelona, Bozen, Besewitz – eine Metropole, eine Stadt, ein fast vergessener Ort. Sie alle haben eines gemeinsam: Einen Bahnhof. Während in Barcelona am Frankreich-Bahnhof, Estació de França, mehrere Züge im Stundentakt das imposante Bauwerk verlassen, hält in Besewitz am Naturschutzpark Darß schon seit Langem kein Zug mehr. Gäste gibt es immer noch, da hier Ferienwohnungen entstanden sind. So unterschiedlich die Reisziele auf dieser Welt sind, so unterschiedlich sind die ersten Gebäude einer Stadt, eines Ortes.

Antwerpens Bahnhof ist wegen seiner opulenten Architektur sicherlich ein Augenschmaus. Im Gare de Lyon in Paris kommt zum visuellen Erlebnis noch das lukullische hinzu. Im Restaurant „Le Train Bleu“ wird die gute alte Zeit in die Gegenwart transformiert. Die Decken sind mit nostalgischen Malereien der anzufahrenden Destinationen verziert. Das im rasenden Tempo bedienende Personal ist ein weiteres Highlight.

Wer in Barancas, Mexiko auf den Zug wartet, kommt schnell mit vielen Leuten in Kontakt. Hier trifft man sich wie andersorten auf dem Markt, und da es nur einen Personenzug gibt, ist der Fahrplan mehr als übersichtlich.

Martin Werner schafft es mit wenigen Worten und beeindruckenden Bildern eine Welt darzustellen, die sich jeder vorstellen kann. Denn jeder ist in seinem Leben schon einmal mit dem Zug gefahren. Wer tatsächlich noch nie mit der Bahn unterwegs war, hat es zumindest zum Einkaufen schon mal in einen Bahn hof geschafft. Bestes Beispiel dafür: Der Leipziger Hauptbahnhof. Einst aus zwei Bahnhöfen entstanden, war er jahrzehntelang der größte Kopfbahnhof weit und breit. Momentan sind noch etwas über zwanzig Gleise in Betrieb. Als Einkaufsmeile – und das kann man durchaus wörtlich nehmen: Auf drei Etagen gibt es vom Reisemagazin bis zum Donut wirklich alles hier zu kaufen – ist wider Erwarten der Bahnhof mehr Bummelpfad als Abfahrts- und Ankunftsort. Von Brisbane und Istanbul über Taipeh und Peking bis nach Garub in Namibia und dem U-Bahnhof am World Trade Center – hier geht jedem Bahnfreund das Herz auf.

Wer sich bisher nicht so recht für die Schienenhaltestellen begeistern konnte, wird schon beim ersten Durchblättern Schnappatmung bekommen. Originelle Ein-, Drauf- und Ansichten, detaillierte Raffinessen und die überbordende Vielfalt der gezeigten Bahnhöfe rund um den Globus faszinieren jeden, der sich an Architektur im zügigen Zeitalter an Schönheit erfreuen kann.

Das Meer und der Norden

So eine Reise macht man nicht an einem Tag. Auch nicht in einer Woche. Einen Monat – vielleicht. Doch die Wucht der Eindrücke kann einen dann schon erschlagen. Charlotte Ueckert nimmt die Herausforderung an und lässt sich ein wenig durch den Norden Deutschlands treiben. Und da ist auch schon die erste essentielle Frage: Wo endet der Norden eigentlich? Sprachlich da, wo aus dem Wort „maken“ das „machen“ wird. Das wäre die so genannte Benrathlinie, von Aachen (besser gesagt Benrath mit dem berühmten, literarisch verewigten Schloss) über Kassel bis Magdeburg. Kulturell lässt sich die Grenze nicht ganz so genau ziehen.

Im Zwiegespräch mit einer Freundin, die in Jugendtagen nach Australien ausgewandert ist, lässt die Autorin ihre Beweggründe für dieses Buch aufblitzen. Ein wenig Rückschau halten, unbändige Neugier auf das, was sich bis heute verändert hat und der Drang dem Gedankenfluss folgen zu dürfen.

Über das einst sehnsüchtige Sylt über das lebenswerte Oldenburg führen sie ihre Streifzüge von Küste zu Küste. Markante Bauten säumen den Weg ohne den Blick zu verstellen. Wie war es, wie ist es, wie könnte es einmal sein? Fragen, die sich im Verborgenen stellt und deren Antworten gar nicht so wichtig erscheinen. Denn der Weg ist das Ziel.

Laut stampfend wird man Charlotte Ueckert nie erleben. Ihr Metier sind die leisen Töne. Sehr persönlich, so dass man fast schon dazu gezwungen wird eigene Gedanken mit ins Lesespiel zu bringen. Wie hat man diese Stadt, die Region selbst erlebt? Man entdeckt viele Parallelen, aber noch mehr Unterschiede.

So unterschiedlich die Region, so unterschiedlich sind demzufolge auch die Eindrücke der Autorin. Rügen – so malerisch. Finkenwerder – so klar strukturiert. Wismar und Lübeck so pittoresk und liebenswert wie kaum zwei andere Städte.

Wer Charlotte Ueckerts Werk ein wenig kennt, weiß um ihre Affinität zur Kunst und zur Geschichte. Ihre Biographie über Christina von Schweden ist so detailreich, das sich kaum ein anderer je wieder an dieses Thema wagen kann. Auch über Paula Moderssohn-Becker hat Charlotte Ueckert eine Biographie geschrieben – und Worpswede gehört schlussendlich mit zum Reiseplan der Autorin. Ein kleines Dorf mit einer lebhaften Künstlerkolonie, zu der auch eben genannte Moderssohn-Becker und ihr Mann gehörten, hat es ihr wirklich angetan.

Diese Reiseimpressionen strotzen vor Informationen, sind im Gegenzug aber auch sehr persönlich. Wer sich darauf einlässt, bekommt ein Buch an die Hand, das er auf eigenen Reisen im und durch den Norden immer wieder hervorholen wird und in eine ereignisreiche Welt eintauchen kann.

Nordseeküste Schleswig-Holstein

Es ist ein Leichtes in schweren Zeiten, bei der Reiseplanung mal eben nicht über den Tellerrand zu blicken. So mag es manchem ergehen, der vorhatte den Sommer 2020 in bella italia oder dem quirligen Marrakesch zu verbringen oder in Stadtabenteuer von Lissabon bis Berlin einzutauchen. So wird es eben die Nordseeküste Schleswig-Holsteins. Was kein „Abstieg“ bedeutet – im Gegenteil, wenn man dem Autor Dieter Katz folgt und in seinem Reiseband diese Gegend Deutschlands bis ins kleinste Detail erforscht.

Denn Weltspitze-Erlebnisse kann man auch hier erleben. Zum Beispiel die weltweit am meisten befahrene Wasserstraße. Den Nord-Ostsee-Kanal, international aus Kiel-Canal genannt. Und wer vom einem ans andere Ufer will, nutzt die vierzehn Fähren. Und die sind allesamt kostenfrei. Das wurde vor 125 Jahren – juhu ein Jubiläum – vom Kaiser persönlich so verfügt. Auch in Brunsbüttel, der geteilten Stadt am westlichen Ende bzw. dem Anfang des Wasserweges, kann man innerorts kostenlos parken. Man stelle sich dies in einer Metropole wie Rom vor…

Ob das idyllische Dithmarschen, wo Radfahrer die Szenerie mehr bestimmen als anderswo, oder das zu Dreiviertel vom Wasser umgebene Eiderstedt –keine Stadt, sondern ein Landstrich – oder die zahlreichen Inseln, die Nordseeküste ist seit sehr langer Zeit ein Anziehungspunkt für  zahllose Erholungssuchende.

Sylt ist sicherlich die bekannteste, und berüchtigste Insel. Teuer und unfassbar schön. Dennoch stehen Föhr und Pellworm ihr sicher in Nichts nach. In Sachen Ruhe und Erholung haben sie sicher einen entscheidenden Vorteil. Wie gemalt für Familien. Und fernab vom klischeehaften Schickimicki-Gehabe der Promi-Insel. Dieter Katz darf für sich in Anspruch nehmen, dass der Urlaub hier nicht erst bei der Anreise beginnt, sondern schon beim ersten Durchblättern dieses umfangreichen und informativen Reisebandes. Von Pharisäern (den originalen bis hin zum Getränke, die ja auch zusammengehören) über Weinanbau (ja, Föhr und Sylt sind nicht nur Krabbenregionen, irgendwie muss man ja auch mal die Kehle ölen bei so viel salzhaltiger Luft) bis hin zu einer Rebellensteuer weiß der Autor neben den zahlreichen Ausflugstipps – wie dem obligatorischen Wattwandern – auch so manche Anekdote zu erzählen.

Die Nordseeküste Schleswig-Holsteins wird dank dieses Buches einen Ansturm von wissbegierigen Besuchern erleben. Die Träume von der großen weiten Welt sind aufgeschoben, für viele sind sie aufgehoben. Und die meisten wird dieser Urlaub vielleicht der Anfang eines neuen andauernden Traumes werden.

Laaanges Wochenende

Die Zeit zwischen zwei Urlauben ist die härteste für alle, die nicht zwischen den eigenen vier Wänden festwachsen wollen. Ein Kurztrip übers Wochenende – oder noch besser das Wochenende ein wenig verlängern – ist der immer mehr in den Fokus der Tourismusmanager rückende Kurzurlaub. Mal ein, zwei, drei Tage raus aus dem Trott und schauen, wo auf der Welt es was zu entdecken gibt. Ob nun einfach mal die Seele baumeln lassen oder auf eine knackige Entdeckertour gehen – in der Kürze liegt die Würze. Nur ein paar Stunden entfernt von Zuhause sieht die Welt oft schon ganz anders aus. Die Auswahl ist riesengroß. Vom irischen Galway bis in die alte polnische Königsstadt Krakow, vom idyllischen Oslo bis ins quirlige Palma de Mallorca, auch mal ohne Komasaufen: Dieser Band wird ein redseliger Ratgeber sein für alle, die dem Grau des Alltags das Bunte der Welt entgegensetzen wollen.

Hält man das Buch erstmalig in den Händen, ist man auf Anhieb fasziniert von der Auswahl der vorgestellten Destinationen. Von Strasbourg über Portofino, von Porto bis Brno sind die Ziele wohlbekannt, doch oft dem Schnellzugriff bei der Urlaubsortfindung entzogen. Weniger bekannte Orte wie Pointe du Raz, der westlichste Punkt Frankreichs, ist von nun an ein Sehnsuchtsort, den man gesehen haben muss. Wenn man vorsichtig an den Klippen wandert und den Blick nach unten schweifen lässt, wird man Zeuge der Urgewalt des Meeres. Wer nur ein wenig nordöstlich reist, landet unweigerlich auf einer der Kanalinseln wie Jersey, die seit ein paar Jahren wieder verstärkt um die Gunst der Besucher buhlt.

In Luzern über die Kapellbrücke schlendern, in Dubrovnik auf der Stadtmauer auf Meer und Altstadt schauen oder originelles Windowshopping im Stockholmer Stadtteil Södermalm – hier wird jeder fündig. Bei jedem Umblättern steigt der Puls und die Zeit bis zu den nächsten freien Tagen wird unerträglich lang. Jetzt hat man aber zumindest ein Ziel vor Augen, beziehungsweise sind es gleich zweiundvierzig in fünfzehn europäischen Ländern.

Herrn Arnes Schatz

Kein lauschiges Wintermärchen im wohligen Mantel eines Kindheitsabenteuers. Vielmehr eine Geschichte, die dem Leser Schauer über den Rücken jagt. Fast schon kindgerecht zubereitet von der Lieblingsautorin unzähliger Generationen von Kindern, Selma Lagerlöf.

Es ist kalt und dunkel im schwedischen Februar. Torarin, der Fischkrämer zuckelt mit seinem Karren übers eisige Land. Das Meer ist bis zum Horizont zugefroren. In der Ferne leuchtet ein, das Haus von Pfarrer Arne. Dem geht‘s gut. Er hat’s warm, seine Familie um sich und immer genug Essen auf dem Tisch. Torarins Arm ist gelähmt, weswegen er nicht richtig arbeiten kann, so wie es sich gehört für einen echten Kerl in dieser unwirklichen Gegend. Sein Hund Grim ist sein einziger Freund.

Doch die Stimmung bei Herrn Arne ist angespannt. Man hört wie die Messer in weiter Ferne gewetzt werden. Herr Arne sieht das gelassen. Alles Humbug. Torarins Heimfahrt ist von Zweifeln geplagt. Was, wenn die geheimnisvolle Alte am Tisch von Herrn Arne recht hat und tatsächlich die Messer geschärft werden? Trachtet da jemand Herrn Arne nach dem Leben? Hat es jemand auf die Silbermünzen in der riesigen Truhe abgesehen?

Das Schicksal schlägt erbarmungslos zu. Das Haus samt Hof in Schutt und Asche. Die Familie niedergemetzelt. Nur Elsalill, die Pflegetochter in Herrn Arnes Haus hat überlebt. Zitternd vor Angst bringt sie kaum ein Wort aus ihrem Mund. Doch das, was sie hervorzubringen im Stande ist, was alle verstehen können, lässt das Blut in den Adern gefrieren. Sie wolle die Übeltäter am Leben sehen. Damit sie ihnen ihren Schmerz ins Gewissen schreien kann. Und sie will Rache! Für Elsalill gäbe es nichts Schlimmeres als wenn die Mörder ohne ihr Zutun den Weg ins Jenseits finden. Die Geister der Verstorbenen sind an ihrer Seite.

Auf der Suche nach den Mördern – Elsalill konnte die Gestalten nur schemenhaft im flackernden Licht des Feuers erkennen – trifft sie aber nicht auf die Mörder, sondern auf die Liebe. Sir Archie ist mit seinen Gefährten Sir Reginald und Sir Philip auf dem Weg in die Heimat. Als Söldner waren sie lang in fremden Diensten. Doch leider sind ihre Taschen leer. Was für alle – alle – weitreichende Folgen haben wird…

Die Geschichte von Selma Lagerlöf ist nichts für zarte Leseraugen. Hier geht es richtig zur Sache, wenn es gilt die Taten der Mörder zu beschreiben. Schwer zu toppen. Roberta Bergmann hat sich der Herausforderung gestellt und die Geschichte mit nicht minder düsteren Bildern illustriert. Von skandinavischer Winterdunkelheit zerfressene Gesichter, weite Kapuzen über den Gesichtern der zwielichtigen Gesellen, scharfe Konturen, die die Nachtkälte realistisch abbilden. Die beste Gute-Nacht-Lektüre für alle, die eine gute Geschichte zu schätzen wissen.

Eine moderne Familie

Man hätte es kommen sehen müssen. Sverre und Torill, der Wilde und die Donnernde. Wenn man nach den Namen geht. Aber es ging alles gut. Sverre und Torill sind glücklich verheiratet. Haben drei Kinder, die allesamt aus dem Gröbsten raus sind und dem glücklichen Paar auch schon zwei Enkel schenkten. Sverre feiert nun seinen 70. Geburtstag. In Italien. Mit der ganzen Familie. Eine Zusammenkunft, die bis auf das zu feiernde Jubiläum wie alle anderen ablaufen wird. Ja, so denken alle. Doch Sverre und Torill haben eine Überraschung für Liv, Ellen und Håkon, ihre Kinder. Sie wollen nicht nur, sie werden sich scheiden lassen!

Wäre dieser Roman ein typischer amerikanischer Film, wäre der Plot klar. Alle rennen aufgeregt hin und her. Reden nur noch darüber, was die Anderen von der Scheidung halten. Machen sich gegenseitig Vorwürfe. Und die, die es betrifft, machen sich beim Cocktail darüber lustig. Am Ende sind alle zufrieden und fahren nach Hause. Wenn‘s gut läuft an der Kinokasse, gibt’s eine Fortsetzung und schlimmstenfalls ein Musical. Aber Helga Flatland ist keine Amerikanerin, die für Hollywood schreibt, und „Eine moderne Familie“ ist mitnichten amerikanisch. Sondern norwegisch. Und Norwegen ist 2019 das Partnerland der Frankfurter Buchmesse.

Helga Flatland gibt ihren Figuren das Rüstzeug an die Hand mit dieser Situation umgehen zu können. Denn jeder hat seine eigenen Probleme. Liv, die Große, hat selbst zwei Kinder. Als sie die Große wurde – als Ellen zur Welt kam – war das für die die größte denkbare Änderung in ihrem Leben. Als Ellen dann auch noch schneller „erwachsen“ wurde – also körperlich – begann der Zorn Livs auf die kleine Schwester. Erst als Liv schwanger wurde und sah, dass Ellen noch viel sehnlicher sich ein Kind wünschte, was bis heute nicht geklappt hat, kamen sich Liv und Ellen wieder näher.

Die Rahmenhandlung – die angekündigte Trennung der Eltern – dient allen Gästen als Spielweise, um über ihr eigenes Leben noch einmal nachzudenken.

Wer bin ich? Wohin will ich? Nur zwei Fragen. Die jedoch so existenziell sind, dass man es sich nicht traut die Antwort zu verweigern. Mit viel Hingabe zu ihren Figuren erlaubt sich Helga Flatland einen Riesenspaß und formt eine Minigesellschaft, die nur so und nicht anders funktionieren kann. Dieses Buch ist wie ein Urlaub, an den man sich wegen der guten Gespräche erinnern wird, nicht wegen der Sehenswürdigkeiten, die man besichtigt hat.

Trost

Na das ist ja mal eine Reise: Lissabon, Berlin, Brüssel. Und aus jeder Stadt kommt eine Geschichte. Nicht irgendeine, sondern jeweils eine großartige. Alle zusammen: Noch großartiger. Und die Frau, der das alles passiert ist, die das alles niedergeschrieben hat, heißt … nein, diese Frau hat keinen Namen. Sie hat nur ihre Erinnerungen, ihr Vergangenheit (in drei Städten) und ihre geistige Mutter – die Autorin dieses Romans – eine riesige Menge neuer Fans.

Sie ist in Lissabon. Auf der Flucht vor etwas Unausgesprochenem. Hier am Atlantik soll ihr neues Leben beginnen. Es beginnt mit einem Blick, einem Blick zurück, gefolgt von weiteren Blicken. Er steht am anderen Ende der Bar. Sie fasst sich ein Herz und gibt im Vorbeigehen, doch mit der Vehemenz ihrer Sehnsucht ihre Telefonnummer. Ein Date? Oh ja! Mehr als das. Eine Affäre, die als heiß zu bezeichnen den Zweck mehr als verfehlen dürfte. Er ist aufmerksam, zurückhaltend, genau das, wonach sie sich sehnte. Aber auch die Zeit schreitet voran. Und mit ihr das unauslöschliche Gefühl des Alltags. Trott und eine gewisse Unsicherheit umfangen sie. Ist es das Ende für sie? In Lissabon?

Ja, denn Berlin wartet. Und mit Berlin kommt Kimmy ins Leben der Fremden. Und wieder ist das dieses Kribbeln, dieses Verlangen … aber auch die Zweifel, ob hier das Ende der Reise beschieden sein wird. Ist es nicht. Denn Brüssel ruft schon aus der Ferne.

Drei Städte, eine Frau, drei Affären, eine einzige Suche nach Vollendung. Sie darf nicht glücklich sein. Nicht dauerhaft. Sie ist für den Moment geschaffen, verpasst jedoch immer wieder den rechtzeitigen Absprung in den nächsten Glücksmoment. Ein Trost sind die Erinnerungen, die flehentlichen Abzweigungen des Schicksals, die sie erst vorantrieben und dann auf der Stelle verharren lassen.

Iga Hegazi Høyer ist nicht zimperlich in ihrer Wortwahl. Direktheit dort, wo sie angebracht ist. Zurückhaltung da, wo der Leser sich selbst ein Bild machen soll. Will man mit ihr tauschen? Nein, ja, oder doch, nein, lieber nicht. So unentschieden sie ist, so sehr knabbert man selbst an den eigenen Fingernägeln, wenn man versucht herauszubekommen, ab man sie beneiden oder bedauern soll.

Das Wrack am Falkensteiner Ufer

Tragödien auf See – davon werden die Nachrichten derzeit bestimmt. Menschliche Dramen, die verhindert werden können und die, die sie verhindern können, stehen ohnmächtig daneben und ergehen sich in endlosen Phrasen.

Schiffsunglücke gab es seitdem die Menschen die Meere befahren. Doch nicht nur auf hoher See sind Menschen und Maschinen in Gefahr, auch im scheinbar sicheren Fahrwasser vor und in den Häfen ist niemand vor Unglücken gefeit. Selbst wenn das Schiff auf dem Trockenen liegt, kann es passieren. So wie am 16. Juni 1922. Die Alvaré ist zur „Durchsicht“ an ihren Geburtsort zurückgekehrt. Julius Falk steht mit seinem Sohn Fritz im Hafen und schaut dem Schauspiel des Zuwasserlassens zu. Gleich muss er wieder ran. Muss arbeiten. Geld verdienen. Heute hat er seinen Filius dabei. Der soll sehen woher das Geld kommt und wie man hart arbeitet. Geduldig erklärt er dem neugierigen Jungen was da drüben vor sich geht. Als alles gesagt ist, will er Fritz mitnehmen zur Arbeit. Doch der Junge bemerkt etwas, was nicht sein darf. Das Schiff neigt sich gefährlich zur Seite. Nicht ungewöhnlich für so einen riesigen Kahn. Doch dann passiert das, was keiner hofft jemals erleben zu müssen. Das Schiff richtet sich nicht wieder auf. Im Gegenteil es bohrt sich in den Grund der Elbe. Es wird Tote geben, Seeleute und Werftarbeiter.

Das ist nur eine Geschichte, die Jürgen Rath in seiner Anthologie der Schiffsunglücke auf der Elbe wie ein Abenteuer erscheinen lässt. Mit Fachwissen – er ist Schifffahrtshistoriker mit Kapitänspatent – und Einfühlungsvermögen lässt er die Schrecken der Elbe noch einmal Revue passieren. Sofern Namen von Beteiligten recherchierbar waren, hat er diese verwendet. War dies nicht der Fall, verleiht er der Situation einen durchaus glaubhaften Rahmen, in dem er Menschen in Aktion treten lässt, die sicherlich genauso gehandelt hätten.

Es ist nicht die pure Sensationslust, die dieses Buch zu einem echten Schmöker werden lässt. Es ist das Wissen darum wie Katastrophen entstehen und vonstattengehen können sowie das Handeln der Ermittler im Nachgang. Die Elbe ist an ihrer Mündung ein tückischer Fluss. Ständig wandern Untiefen, Sandbänke und anderen Gefahrenquellen von einem Ort zum andern. Dank moderner Technik können heutzutage viele Havarien ausgeschlossen werden. Doch solange der Mensch am (längeren) Hebel sitzt, sind Unfälle niemals auszuschließen. Ob Alkohol wie bei der Bugier 23 oder einfach nur „dicke Suppe“, also dichter Nebel wie bei dem titelgebenden Wrack am Falkensteiner Ufer: Der Mensch als Gefahrenquelle ist immer präsent. Aber der Mensch ist auch derjenige, der darüber berichtet, und dem es obliegt diese Gefahren zu minimieren.

Lillehammer – Palermo oder: Suite für eine viertel Kuh

Je nachdem von wo man anreist, liegen Lillehammer wie Palermo am Ende der Welt. Die Zeiten sind vorbei, in denen man dachte, dass, wenn man am Rande der Welt Gleichgewichtsstörungen bekommt, sofort in ein tiefes Nichts fällt. Das passiert weder im hohen Norden, noch im tiefsten Süden Europas. Lillehammer, die Stadt, die erst seit knapp drei Jahrzehnten eine Rolle in den Köpfen der Menschen spielt, seit 1992 hier die Olympischen Winterspiele stattfanden, und seitdem als das Maß aller Dinge gelten. Und Palermo, die Stadt, die für die meisten das Italien aufblühen lässt, das sie gar nicht ist, da ihre Wurzeln wie kaum woanders in Europa interkontinental sind.

Stig Sæterbakken und Nino Vetri – unschwer zu erkennen, wer aus welcher Stadt kommt – begeben sich in ihren Geschichten an den Rand Europas. Abseits der Pfade, abwegig in jeder Hinsicht. Und dabei so eindringlich und voller Sehnsucht, dass selbst Märchensammler wie die Gebrüder Grimm grün vor Neid werden. So groß die Entfernung der beiden geographisch war, so eng sind ihre Schicksale als Künstler miteinander verwoben. Sie haben sich nie getroffen. Doch ihr Verleger hat sie – im Falle von Sæterbakken posthum – miteinander vermählt. Ein rauschendes Fest für den Leser!

Nino Vetris beitrag, die Erzählung „Suite für eine viertel Kuh“ beginnt mit dem seltsamen Zusammentreffen des Erzählers, welcher unverkennbar der Autor selbst ist, mit einem Magier. Ein echter Freigeist in jedweder Lesart: Freischaffend, depressiv, angewidert, unverstanden, … pleite. Ein echter Künstler eben. Er eckt an mit seiner Kunst, und die Leute nehmen kein Blatt vor dem Mund, wenn sie ihm ihre Meinung geigen. Oder sie schütten gleich ihr Bier über seinem Haupt aus. Ein hartes Leben als Künstler. Wagner III., so nennt sich dieser Magier, geht schon seit Längerem mit einer Idee für eine Theaterstück schwanger. In diesem soll eine Kuh, Ratten, Fäkalien und Gift eine Rolle spielen. Die Provokation als Kunst. Auch der Erzähler hat eine Idee für eine Geschichte. Sie handelt von Freud und Jung, den Psychoanalytikern. Wagner III. klaut Passagen bzw. gleich die ganze Geschichte. Der Erzähler wird unweigerlich ins perfide Spiel des Magiers hineingezogen. Die Grenzen zwischen Realität und Kunst verschwimmen sehenden Auges.

Bei Sæterbakkens Part in diesem Buch spielen Versatzstücke eine große Rolle. Aus dem Nachlass entnommene Stücke spiegeln genau das wieder, was am anderen Ende, nicht der Welt, immerhin jedoch, Europas ebenso passieren kann. Der Künstler als unverstandener Interpret der Zeit. Die Notate aus dem Nachlass von Stig Sæterbakken lesen sich wie die Einverständniserklärung für das Leben des Wagner III., das der Feder Nino Vetris entsprungen ist. Wagner III. wurde erst nach seinem Tod bekannt. Sæterbakken war schon vor seinem Tod ein geachteter Autor. Er schied am 24. Januar 2012 freiwillig aus dem Leben. In Zusammenhang mit diesem Buch ist der Tod eines weiteren Menschen vielleicht nicht von Bedeutung, aber doch auffallend (könnte von Wagner III. nicht besser inszeniert worden sein): Zwei Tage vor Sæterbakken starb der amerikanische Football-Coach Joe Palermo.