Archiv der Kategorie: Caribooks

Karibik Meer

Der Engel des Patriarchen

Das Leben könnte so schön sein. Emmanuela hat eigentlich alles, was man sich wünscht. Vielmehr als die meisten auf Haïti. Sie hat eine Familie, eine Arbeit, die ihr das gewünschte Leben ermöglicht. Cousine Paula, von allen nur Couz genannt, ist eigentlich die Einzige, die ab und zu mit ihren Geschichten nervt.

Doch seit einiger Zeit umschlingt Emmanuela eine nicht greifbare Unruhe. Sind es die Geschichten von Couz, die ihr Angst machen? Die behauptet, dass ein Geist Besitz von der gesamten Familie ergriffen hat. Und Beweise, wenn man sie so nennen kann, hat sie auch parat. Die Todesdaten von Familienangehörigen sind allesamt äußerst kurios. Oder ist es doch nur die beginnende Menopause, die Emmanuela einfach nicht zur Ruhe kommen lässt. Eine rituelle Kopfwaschung soll dabei Abhilfe schaffen.

Serge, der Mann an Emmauelas Seite ist wenig erfreut über das Ritual, das sie über sich ergehen ließ. Doch ist er Manns genug ihr keinerlei Vorschriften zu machen. Als er bei sich zuhause ankommt, ist auf einmal alles anders. Das Knurren seiner Hund ist beunruhigend… Und Emmanuela weiß nun ganz genau, dass Yvo, der Geist, den einst ihr Großvater „ins Haus schleppte“ erneut sein Unwesen treibt…

Haïti und Voodoo gehören zusammen wie Eiffelturm und Paris. Dessen muss man sich gewiss sein, wenn man Kettly Mars‘ neuen Roman „Der Engel des Patriarchen“ lesen will. Keine Spinnerei wie im Film, in denen sich Besessene ins Feuer stürzen, in denen die Macht des Voodoo missbraucht wird, um die Macht zu stützen. Voodoo ist eine Religion, die man genauso ernst nehmen soll wie jede andere Religion. Mit dieser Einstellung wird dieser Roman zu einem Leseerlebnis der besonderen Art.

Die Sätze umschmeicheln den Leser wie Seide. Langsam bedecken sie die Phantasie und hinterlassen eine Welt, die so fremd erscheint, dass man sie gar nicht als real empfindet. Es sind keine Märchen, die Kettly Mars dem Leser vorsetzt. Echte Geschichten, wahre Empfindungen.

Goldeneye – Ian Fleming und Jamaika

Dass ein Urlaub das Leben beeinflussen kann, hat man schon gehört. Wenn ein Urlaub das ganze Leben verändert, wird man neugierig. Wenn ein Besuch auf einer Insel dazu führt, ein Leben auf den Kopf zu stellen, dem Arbeitsgeber zwei Monate bezahlten Urlaub jährlich abzuringen, um auf eben dieser Insel leben zu können … und wenn dann auch noch die ganze Welt daran teilhaben kann, ist es wert ein Buch darüber zu schreiben.

Goldeneye nennt sich der Flecken Erde. Moment mal, Goldeneye, James Bond … eine Insel? Von Vorn: Während des Zweiten Weltkrieges, der tatsächlich auch in der Karibik stattfand, sah sich das britische Empire gezwungen Maßnahmen gegen die Übergriffe der deutschen Marine zu ergreifen. Auf einer Konferenz in Jamaika beriet man darüber. An eben dieser Konferenz nahm ein gewisser Ian Fleming teil. Und der verliebte sich prompt in die Insel. Schon kurze Zeit später war er Grundbesitzer im Norden des Eilands, mit einer praktikablen, aber nicht zwingend repräsentativen Ausstattung. Und dieses nannte er Goldeneye. Die Legende will es, dass Goldeneye mit einer ansehnlichen Bibliothek ausgestattet war, in der sich auch ein Vogelkundebuch eines gewissen James Bond befand. Ja, jetzt ist alles klar.

Ian Fleming ist nun Jamaikaner. Zumindest zwei Monate im Jahr, in denen er schreibt. Und zwar an den Romanen, die Weltruhm erreichen und durch Kinofilme ein Synonym für loyale Agenten werden, die verbrannte Erde hinterlassen, damit nicht noch mehr anbrennt.

Von Beginn an macht Fleming Werbung für die Insel. Auch der Schauspieler Errol Flynn und seine Kollegen lassen keine Gelegenheit aus Jamaika in den Himmel zu loben. Und die High Society folgt ihrem Rufen wie die Lemminge. Von Charlie Chaplin bis zu Laurence Olivier und Vivien Leigh lassen sie es sich auf der Insel gutgehen. Autor Matthew Parker beschreibt genüsslich wie sie sich alle nackt am Pool räkelten oder David Niven nur knapp einem Skorpionangriff entging, sich dafür Zecken an delikater Stelle einfing. Niven – da ist wieder die Verbindung zu Bond. Er war die erste Wahl für den ersten Bond-Film.

Doch Matthew Parker zieht es vor die kleinen Anekdoten in ihrer Schmuddelecke zu belassen. Jamaika in den 50er Jahren, das ist ein Land im Umbruch. Ein Land, das das koloniale Dasein abschüttelt und sich emanzipiert. Das Geld wird immer noch von Ausländern (Kolonialisten) verdient. Und der kalte Krieg geht im tropischen Regen auch nicht unter. Fleming und Bond – je tiefer man in dieses Buch eindringt, desto deutlicher wird, dass Erfinder und Figur mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen – stehen mittendrin. Flemings Werke verkaufen sich gut, exzellent sogar. Alles, was er auf Jamaika wahrnimmt, was ihn als britischen Gentleman ausmacht, fließt ungefiltert in seinen Helden.

Matthew Parker seziert jede Textestelle der Romane und Geschichten mit James Bond und zeigt Parallelen zu Jamaika, Fleming und der Zeit auf. Wer James Bond nur aus den Filmen kennt, wird überrascht sein, wie groß die Diskrepanz zwischen originaler Druckvorlage und filmischen Abklatsche sein kann. Und vor allem zeigt wer, wie viel Einfluss eine einzige Insel auf eines der erfolgreichsten Kunstprodukte des vergangenen Jahrhunderts haben kann. „Goldeneye“ ist die spannendste Biographie des Jahres.

Die zwielichtige Stunde

Zu faul, zu ungebildet (im Sinne von fehlenden Qualifikationen und Zertifikaten), zu schön, um in der Anonymität der Großstadt unterzugehen. Jean-Françoise Eric L’Hermitte hat es nicht leicht. Der Ärmste. Und so verdient sich Rico, wie er sich selbst nennt, seinen Lebensunterhalt mit dem, was er am besten kann: Als Gigolo.

Ausgestattet mit einer Waisenrente stürzt er sich ins Leben. Kaum volljährig, denn sobald er vor dem Gesetz Mann ist, erlischt der Anspruch auf die relativ üppige Rente, ist er mit einer Freundin Protégé eines Obersts. Der vergnügt sich mit ihr und ihm. Rico ist das einerlei. Ihm geht es gut. Er lebt sein Leben in Martissant, einer Ortschaft mit etwas mehr als zwanzigtausend Einwohnern, in der man nicht viel tun kann, als zu arbeiten oder zu leben. Er hat sich für Letztes entschieden. Kein großer Luxus, wenn man materielle Güter als Luxus bezeichnen will. Sein Luxus ist das Leben an sich.

Élise ist sein zweiter Luxus. Die recht betagte (gut betuchte) Dame ist die direkte Nachfolgerin vom Oberst. Sie lauscht den Geschichten Ricos. Da er schon in jungen Jahren gelernt hat Geschichten aus Büchern abzuspeichern, ist er zu einem exzellenten Erzähler gereift. Doch Èlise will nicht nur zuhören…

Ob nun Hildegarde, ihr Neffe Patrice oder andere, die Ricos Weg kreuzen, sie alle können ihm nicht die Poesie, die er für das Leben empfindet, nehmen. Wie im Rausch nimmt er Gerüche, Geräusche, Farbenspiele in sich auf. Maler und Poet zugleich besprüht er sich und seine Umgebung mit seinen Eindrücken.

Seine Fischgründe sind das Ibo Lélé. Hier trifft sich wer Vergnügen sucht. Hier findet, wer sucht. Hier ist Rico der Fischer mit dem dichtesten Netz. Charme und Poesie setzt er auch hier ein. Doch aus einem anderen Grund. Er muss arbeiten. Immer wieder. Und immer mit einem Lächeln.

Kettly Mars lässt Jean-Françoise Eric L’Hermitte, genannt Rico, nicht am Leben (ver-)zweifeln. Dafür hat er keine Zeit. Das Leben ist zu kostbar, und vor allem zu kurz als dass man sich pausenlos Gedanken oder gar Sorgen machen sollte. Es ist wie es ist, und man kann es nur in Nuancen ein wenig dehnen. Umkehren kann man es nicht. Es sind die leisen Töne, die dieses Buch zu einem Leuchtstrahl im Dunkel des Schicksals der Insel Haïti machen. Kein Wort des Schwermuts, kein Wort des Bereuens stört die friedliche Atmosphäre, die sich Rico selbst geschaffen hat. Und wenn am Abend Félix, der Angestellte einer Pension pünktlich wie jeden Tag am Sender seines Transistorradios dreht, um den Nachrichten zu folgen, ist für Rico die Welt in Ordnung.

Dreizehn Voodoo-Erzählungen

Stellen Sie sich Folgendes vor: Kabinettssitzung der Regierung. Da erdreistet sich jemand einem Senator Widerworte zu geben. Und was macht der? Er fuchtelt mit einer Säge herum, die er stets im Koffer mit sich herumträgt. Schräg? Irre? In Haïti schon. Zumindest in der Phantasie der Stimme der Insel. Und die gehört Gary Victor.

Diese groteske Geste ist das Ende einer dieser dreizehn Geschichten, die sicherlich keine Urlaubsgefühl verströmen, doch ein Land beschreiben, das uns im Kopf so fern ist wie die geographische Distanz. Dem wilden Fuchteln geht ein ganz pragmatischer Ansatz voraus. Kerou will unbedingt Senator werden – es wird klappen, denn sonst könnte er sich nicht wie die Axt im Walde bzw. die Säge im Koffer benehmen. Der Wunsch, der Drang nach Macht ist so groß, dass er sich einem bòkò, einem Voodoopriester anvertraut. Diese stehen aber oft auf der dunklen Seite der Magie – das, was heutzutage gern als „normaler“ Voodoo-Kult angesehen wird. Ob nun im Ernst oder aus eigenem Machterhalt angestachelt, stellt er dem Senatorenplatzanwärter vor eine schier unlösbare Aufgabe: Er soll mit einer Bettlerin schlafen. Man muss wissen, dass Kerou sehr auf Ordnung und Reinlichkeit achtet. Nicht nur eine olfaktorische Herausforderung für den Günstling der Hölle! Sein Leibwächter Carl bringt ihn zu einem Friedhof. Und siehe da! Kerou wird fündig. Die Bettlerin ist sehr jung, hübsch und entspricht gar nicht dem gängigen (olfaktorisch herausfordernden) Klischee. Kerou ist ein Glückspilz! Carl bringt Kerou und die Aufgabe ins Hotel. Ein lauter Knall erschüttert die Nacht. Carl ist gerade fertig sich aktiv auszumalen, was da oben im Zimmer abgeht, als ihm der Gedanke kommt, dass da irgendwas nicht stimmen kann. So viel Glück kann einer allein doch nicht haben. Dann kam auch schon der Feuerball im Gleichschritt mit dem Knall. Im Kopf lädiert wird Kerou aber dennoch entsprechend belohnt. Nur halt mit dem Manko der Säge … Tja, auch im Voodoo hat die Medaille zwei Seiten.

Auch in diesen Erzählungen muss der Fan des haïtianischen Autors nicht auf Dieuswalwe Azémar verzichten. Er hat einen Assistenten, dem er einen beunruhigenden Bericht mit auf den Weg gibt. Zermahlene Körper und ein Minister. Alles nur fauler Zauber? Oder das Werk eines Wahnsinnigen. Tranpe, der Zuckerrohrschnapps, dem Azémar so gern und reichlich zuspricht, hilft. Nicht gegen die Erinnerungen. Die bleiben, werden aber durch das Gesöff erstaunlich erträglich.

Dreizehn Mal schickt Gary Victor den Leser auf eine Odyssee der Gefühle. Angewidert, schockiert und immer wieder fasziniert betäubt der Autor den Leser mit wilden Ritualen, die eigentlich nur aus einem Märchen stammen können. Doch sie sind real, in einer Welt, die von Macht und Korruption geprägt ist und durch die Kraft der Phantasie immer während neue Nahrung erhält.

Alle gehen fort

Nieve schreibt Tagebuch. Und zwar seit dem Tag, an dem sie in ihrem Leben den ersten großen Bruch wahrnahm. Das sorgenfreie Leben bei Mami, einer Radiojournalistin, die nach einem Kriegsreportereinsatz in Angola nicht mehr dieselbe sein konnte, ist vorbei. Sie muss zu ihrem Vater ziehen. Zeitlich begrenzt zwar, doch ohne Aussicht, dass das erzwungene Exil sich in Normalität zurückverwandeln könnte.

Denn ihr Vater, Mitglied einer Theatergruppe, ist ein brutaler, versoffener Schläger. Die von ihm ihr zugefügten Wunden brennen nicht nur auf, sondern vor allem unter der Haut. Konspirative Telefonate mit Mami sind Fluch und Segen zugleich. Segen, weil die Mutter ihr Hoffnung gibt, sie in ihrem Tun bestärkt. Fluch, weil sie geheim bleiben müssen und sparsam gesät sind. Doch der Vater übertreibt es. Nieve wird ihm wieder entzogen, all seine Kontakte nützen ihm nichts mehr. Nieve geht wieder zurück zu ihrer Mutter.

Ihr Tagebuch war der einzige Freund, den Nieve jemals alles anvertrauen konnte. Die kubanische Revolution war gerade mal ein reichliches Jahrzehnt alt als die geboren wurde und nicht mal ein Vierteljahrhundert später beginnt Nieve die Seiten mit Leben zu füllen. Zuerst kindlich-naiv, später sorgenvoll mit all den Nöten, die einen Teenager plagen können.

Auch das Verhältnis zur Mutter wird kompliziert. Rebellion und Aufbruch gehen im Wechselbad der Gefühle Hand in Hand. Nieve sucht Anschluss unter den Mitschülern an ihrer Kunstschule. Doch auch hier kann sie sich nicht entfalten. Freunde und Bekannte, einer nach dem anderen verlässt sie, verlässt das Land. Die Hoffnung, dass auch sie jemandem folgen kann, ist nur ein schwaches Licht am Ende eines verdammt langen Tunnels.

Nieve bleibt, sie bleibt ohne sich anzupassen. Im Inneren lebt die Rebellion weiter. Nach außen verschließt sie sich. Ihr Tagebuch – das weiß sie inzwischen ganz genau – bleibt ihr Refugium der Selbstbestimmung. Die Welt um sie herum versinkt im Dreck, in Korruption, Willkür, dumpfer Regelmäßigkeit – doch Nieve ist zu stark, um der Realität den Rück zuzuwenden.

Wendy Guerra zieht den Leser mit jeder Zeile immer weiter auf ihre Seite. Fühlt man anfangs mit dem schutzlos dem brutalen Vater ausgelieferten Mädchen, so schöpft man neue Hoffnung, wenn aus dem aufgeweckten Mädchen eine junge Frau wird, die um ihre verlorenen Freunde trauert, dennoch ihren Stolz verlieren wird. Das steht fest. Nieve ist im gleichen Alter wie Wendy Guerra. Parallelen sind sicher nicht zufällig. Ein autobiographischer Roman über ein Kuba, das nicht so recht ins Bild der Hochglanzprospekte passen will, dass aber die Sehnsucht der Kubaner auf Vortrefflichste beschreibt.

Mein Bruder Che

Seit der Verabschiedung Fidel Castros aus dem aktiven Politikalltag kommt wieder Bewegung ins Interesse für Kuba. Die Revolucion ist noch nicht zu, und erst recht nicht am Ende. Doch die Ikonen werden nach und nach demontiert. Für viele Politiker, Anführer, Bosse war Ernesto Che Guevara Ikone und Staatsfeind Nummer Eins in Einem. Verklärter Held mit enormem Herz für die Unterdrückten auf der einen Seite, rücksichtsloser Egozentriker für die auf der anderen Seite. Pop-Art-Ikone mit dem Potential als T-Shirt ewigen Ruhm zu erlangen und gewissenloser Mörder. Ein echtes Bild von Che zu generieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Jahrelang hat Juan Martín Guevara den Mund gehalten. Als kleiner Bruder des großen Che saß er jahrelang im Gefängnis unter der Militärjunta Videlas in Argentinien. Der Name Guevara war keine Einnahmequelle, eher Grund sich ruhig zu verhalten. Nun bricht er sein Schweigen und gibt (s)einen Blick auf Ihn, den großen Freiheitskämpfer, Abenteurer und Bruder frei. Im fünfzigsten Herbst der feigen Ermordung Ches.

Als Che seine Familie, auch den kleinen Bruder Juan Martín nach Havanna zu den Revolutionsfeierlichkeiten einlädt, ist er doppelt so alt wie Juan Martín. Als Juan Martín zum ersten Mal den Todesort seines Bruders in Bolivien besucht und den Plan fasst ein Buch zu schreiben, ist dieser fast doppelt so alt wie sein großer Bruder geworden war. Dazwischen liegen Jahre des Schweigens, des Bangens, auch der Freude, vielmehr jedoch der Trauer. Juan Martín Guevara zieht nicht eine der Jubelarien ab, die immer wieder an Jahrestagen auf den Markt geworfen werden. Er war ja nicht dabei als in der Sierra Maestra die Kugeln den Kolonnen und dem Comandante um die Ohren flogen. Er war ja nicht dabei als im bolivianischen Dickicht die unterbesetzte, unterernährte, unmotivierte Truppe den Schergen des Militärs in die Hände fiel. Er war ja nicht dabei als aus dem Arzt mit Asthmaleiden und der wilden Mähne Ernesto Guevara der strenge, getriebene Revolutionär Che wurde. Aber er war immer sein Bruder und konnte ihn jahrelang beobachten und seinen Interpretationen lauschen und sie aufsaugen.

Und nun berichtet Juan Martín Guevara von seinem großen Bruder. Es ist ein stilles, liebevolles Portrait eines Mannes, der Menschen auf Anhieb begeistern konnte, der von seiner abgöttisch geliebt wurde, der das Wort revolutionär im wahrsten Sinne verkörperte und über den mit diesem Buch das wohl größte Mosaikstück im Puzzle Ernesto Che Guevara hinzugefügt wird.

Sehnsucht Kuba

Kuba – hat schon ein bisschen was von Sehnsucht. Für Arne Retzlaff ein bisschen mehr als „nur ein bisschen“. Echte Sehnsucht. Und für ein Jahr ein echtes Zuhause. Nicht Havanna, nicht Santiago de Cuba. Manzanillo hieß der Ort, der zwölf Monate mit Heimat gleichgesetzt wurde.

Das Kuba von einst mit dem prachtvollen Havanna und seinen Casinos und den dazugehörigen Etablissements, den breiten, überfüllten Boulevards, dem Paris der Karibik, ist nicht mehr viel übrig. Die Köpfe der Revolution sind zweidimensionalen Ikonen an Häuserfassaden gewichen. Seit einiger Zeit strecken die amerikanischen Ketten, die vor mehr als einem halben Jahrhundert ein Grund für die Wendung zu besseren Zeiten und Idealen waren, ihre Fühler wieder gen Kuba aus. Die beschaulichen Zigarrenmanufakturen werden in absehbarer Zeit modernen klimatisierten Arbeitsräumen weichen müssen. Und das kubanische Lebensgefühl wird bald nur noch Zuschauern des Buena Vista Social Clubs eine Vorstellung von dem, was einst war, bieten können.

Umso erbaulicher ist die Lektüre dieses herzlichen Reise- und Lebensberichtes von Arne Retzlaff. Er lernte Kuba kennen als erste Reformen wieder individuelle Entfaltung möglich machten. Als Dollars auch den Kubanern zumindest auf dem Papier rosige Zeiten versprachen. Verträumt oder verklärt sind allenfalls die Vorurteile des neugierigen Lesers. Als sanfte Abrissbirne mit dem Feingefühl eines ewigen Kuba-Liebhabers fungiert der Autor. Schon beim ersten Durchblättern, wenn man den Fotoabschnitt Seite für Seite betrachtet, werden die Vorstellungen auf eine harte Probe gestellt.

Unter den Reiseberichten über die Perle der Karibik sticht „Sehnsucht Kuba“ heraus, weil die Klischees dazu dienen den Leser auf eine andere Fährte zu locken. Nicht Hinterlist und Tücke sind die Antriebsfeder Retzlaffs, sondern das Bedürfnis Kubas wahres Gesicht zu zeigen. Die Schwierigkeiten beispielsweise ein Haus zu bauen. Wo in Deutschland der Amtsschimmel wiehert, grüßt hier die Mangelwirtschaft. Wo in Deutschland die Planung jedwede Vorfreude auf ein Fest nimmt, regiert auf Kuba die Improvisation. Und es gewinnt immer die Lebensfreude! Das spürt man in jeder Silbe.

Kuba als Reiseziel ohne das „Schnell nochmal hin, bevor alles wech ist“ – mehr als lohnenswert. Kuba mit Reiseband – sehr zu empfehlen. Kuba bereisen, ohne Arne Retzlaff zu Rate gezogen zu haben – ein Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist.

Kubas Hähne krähen um Mitternacht

Kubas Hähne krähen um Mitternacht

Kein Urlaub, keine Entspannung, keine Erholung sucht Tierno Alfredo Diallovogui, als er Kuba besucht. Er ist über Paris eingereist. Doch zu Hause ist er in Guinea in Westafrika. Er sucht die Wurzeln seiner Mutter, und somit auch seine eigenen. Als er noch ganz klein war, verließ seine Mutter Guinea und ließ ihn bei seinem Vater zurück. Juliana hieß sie und hatte immer ein bestimmtes Lied auf den Lippen.

Nun steht er da: Fremdes Land, fremde Sprache, fremde Menschen und – Ignacio. So einen Typen braucht man ganz zu Beginn eines Aufenthaltes. Er ist neugierig, aber auch auskunftsfreudig. Später wird er nervig und ist irgendwie seltsam. Als Fremdenführer ist Ignacio eine Fundgrube, doch genauso tief ist auch das Misstrauen, dass Tierno dem aufdringlichen Ignacio nach und nach immer mehr entgegenbringt. Ein Schnüffler ist in der Stadt! Was will er? Wem will er an den Kragen? Dass Tierno „in friedlicher Absicht kommt“, auf den Gedanken kommt erstmal keiner. Ein Unruhestifter ist er, und wenn er es noch nicht ist, dann wird er es. Davon ist man überzeugt.

Tierno kommt seiner Mutter immer näher – sie ist tot, das weiß er. Doch ihr Weg ist sein Ziel. Sie soll, sie muss für ihn schließlich Konturen annehmen. Er kennt sie nicht, hat kaum Erinnerungen. Die Stadt ist in Aufruhr. Juliana war bekannt, fast schon berüchtigt.

In ausgedehnten Gesprächen mit denen, die Juliana kannten, mit Ignacio, mit sich selbst kommt er ihr näher. Vieles, das schon längst dem Vergessen anheimgefallen schien, tritt erneut ans Tageslicht. Seilschaften, die jeder kannte, doch niemand auszusprechen sich wagte, bahnen sich den Weg nach draußen, in die Öffentlichkeit der Stadt. Ein gefährliches Spiel, das Tierno da treibt, wenn ein Spiel wäre…

Niemand anderes als der Autor selbst ist der Protagonist des Buches. Die Gespräche sind Zeitzeugen eines Landes, das sich von Tag zu Tag verändert. Kuba, das einst abgeschottete sozialistische Vorzeige-Eiland zwischen Palmenparadiesen und knallharter Aggressionspolitik, zwischen starrer Haltung und unendlicher Lebenslust, wird zum Spielgrund für ein allzu verständliches menschliches Verlangen. Dem nach den eigenen Wurzeln.

Ohne große Vorbereitungen stürzt der Autor / Hauptakteuer den Leser ins dunkle Nichts seiner Vergangenheit. Als Leser muss man dranbleiben, sich in Geduld üben. Kapitel für Kapitel dringen immer mehr Sonnenstrahlen der Klarheit ins Dickicht des Familiendramas. Gewalt trieb Juliana einst zurück in die Heimat. Doch das rettende Ufer entpuppte sich nicht als der Sehnsuchtsort der Ruhe, der er zu sein schien, den sie zu finden hoffte. Tierno hat die Gnade der späten Geburt auf seiner Seite. Ein Vorteil?

Neun Nächte mit Violeta

Neun Nächte mit Violeta

Im Leben eines Autoren kommt irgendwann der Moment, in dem man die Hosen runterlassen muss. Der Moment, in dem er sich einem anderen Genre widmet. Für Leser eine spannende Sache: Reicht er weiterhin an die Qualität des bisher so geschätzten Werkes heran? Im Falle von Leonardo Paduras „Neun Nächte mit Violeta“ kann jedem Leser die Angst vor dem Horrorszenario Qualitätsverlust genommen werden. In diesem Buch sind dreizehn Kurzgeschichten zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Manche sind nur wenige Jahre alt, manche wurden vor einem Vierteljahrhundert geschrieben.

Die Einstiegsgeschichte handelt von einem Mann, einem Journalisten, der als Kubaner in Angola das Land gegen die südafrikanischen Aggressoren absichern soll. Er arbeitet mit der Feder in der Hand, nicht mit der Waffe, was ihn auf besondere Weise sympathisch macht. Er ist nicht ganz freiwillig hier. Und er steht unter Beobachtung, was er allerdings erst kurz vor seiner „Dienstzeit“ erfährt. Was ihn von Anderen abhebt, ist die Sehnsucht, sind die Träume, die er immer noch hat. In Madrid findet gerade eine Ausstellung mit Werken von Velázquez statt. Einmal die Bilder des berühmten Hofmalers sehen – das wäre ein Traum. Der auch gleich in Erfüllung gehen soll. Denn er darf über Madrid (mit kurzem, doch ausreichendem Aufenthalt) zurück in die Heimat. Doch welch Pech: Die Ausstellung ist während seines Zwischenstopps geschlossen! Soll ihm das Pech weiterhin anheften? Zwei Jahre war er weg aus Kuba. Blieb seine Frau ihm treu?

Das Schicksal ist eine launische Diva. Wo Pech, da auch Glück. Denn Frankie, Freund aus Kuba, mutiger Emigrant, läuft ihm über den Weg. Und nach und nach ist die verpasste Ausstellung kein Fluch mehr, sondern Segen. Denn Frankie, der die Freiheit vermeintlich fand, ist weniger frei als er selbst, der im straffen Korsett des nachrevolutionären Kubas eingezwängt ist.

Die namensgebende Geschichte „Neun Nächte mit Violeta“ wird von Träumen getragen. Genauer gesagt von einem Träumer. Ein junger Mann, gerade achtzehn, lernt die Versuchungen des „anderen Havannas“ kennen. Ein schummriger Nachtclub, ein Longdrink, verliebte Paare und … Violeta. Die Nachtclubsängerin, die man im Lexikon unter Verführung finden würde. Lasziv gestaltet sie ihr Programm. Es ist um ihn geschehen. Doch er ist zu jung, um zu verstehen, was mit ihm geschieht. Erst später erlebt er, was es heißt ein liebender und geliebter Mann zu sein. Beziehungsweise, was er dafür hält. Körperliche Anziehungskraft, wobei die Betonung auf „Kraft“ liegt, werden ihm die Konzentration rauben. Sie, Violeta soll es sein, die ihn seine Wurzeln vergessen lassen soll. Neun Nächte verbringt er mit ihr. Neun Nächte, jede anders als die vorangehende, verändern sein komplettes Leben. Denn, wenn auch Träume wahr werden können – das lernt er schmerzvoll – so heißt das nicht, dass alles, was bisher war, vergessen werden kann. Denn auch Träume haben einen Anfang und vor allem ein Ende. Und das kommt für ihn plötzlicher als ihm lieb ist.

Leonardo Padura ist mit seinen etwas über sechzig Lenzen noch nicht in der Verfassung seinen juvenilen Träumereien den Anstrich des lüsternen Alten zu geben. Die Geschichten in diesem Buch strotzen nur so vor Energie! Lustvoll, nachdenklich, gereift erscheinen die Helden seiner Geschichten. Fest im Sattel der eigenen Geschichte verwurzelt, werden sie aus der Muttererde gerissen, um andernorts neue Blüten zu treiben. Diese duften nicht immer lieblich und süß. Oft ist es ein bitterer Beigeschmack, der ihnen angediehen wird. Doch auch die Bitterkeit hat ihre Reize!

Fidel Castro: Revolutionär und Staatspräsident – Hörbuch

Fidel Castro Hörbuch

Kuba – was für eine Leidenschaft diese vier Buchstaben hervorrufen. Weite Strände, Plamen, endloses Meer, Lebenslust unter karibischer Sonne. Doch auch seit über einem halben Jahrhundert ein Staat, der mit Kampf, revolutionären Ideen und einer Vision in Verbindung gebracht wird. Und einem Mann: Fidel Castro. Ein Name wie Donnerhall für seine Feinde, Erlösung und Balsam für die geschundene Seele für die ihm Dankbaren.

Elke Bader zeichnet mit ihrem Hörbuch ein differenziertes Bild des Máximo Lider. Stimmungsvoll untermalt mit Radio-Ausschnitten und Musik, erzählt von den markantesten Stimmen der Hörbuchszene Gerd Heidenreich und Johannes Steck sowie Murali Perumal. Vier CDs, die das spärlich vorhandene, oft verzerrte Wissen um den gewieften Taktiker und mitreißenden Redner um so manche Anekdote ergänzen und anreichern.

Knapp fünf Stunden lauscht man gebannt den Stimmen, wird zurückversetzt in eine Zeit, die die gar nicht, und wenn doch nur aus Dokumentationen kennen. Mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, waren Fidel Castro die herrschenden Sich-die-Taschen-stopfenden Lenker Kubas seit jeher ein Dorn im Auge. Seine Studien – er hat gleich mehrere Abschlüsse – nutzte er, um seiner Heimat eine seiner Meinung nach sonnige Zukunft zu bescheren. Schon Anfang der 50er Jahre desvorigen Jahrhunderts wurde ihm klar, dass den Diktatoren Kubas mit Worten nicht hinreichend beizukommen sei. Zumal sie mit den USA mächtige Rückendeckung besaßen. Der Angriff auf die Moncada-Kaserne war nur der erste Versuch mit Waffengewalt eine Veränderung herbeizuführen.

Mit Che Guevara bekam der Kampf eine Pop-Ikone an die Seite gestellt. Exil, detaillierte Planungen und eine hochmotivierte Truppe brachten endlich das ersehnte Ziel: Ein freies Kuba.

Doch die einstigen Machthaber und ihre Unterstützer ließen nicht locker. Embargos und Isolation folgten. Anbiederung trotz Vorbehalte an den sozialistischen Teil der Erde waren unumgänglich. Kuba, der einstige Sündenpfuhl Lateinamerikas, der der prüden Oberschicht des übermächtigen Nachbarn als lockeres Gegenstück der eigenen Verklemmtheit diente, wurde zum Vorzeigestaat des Marxismus-Leninismus. Als der Ostblock fiel, wankte Kuba ein wenig. Mehr aber auch nicht. Selbst als Fidel die Macht an seinen Bruder Raoul abgab, brachen noch lange nicht alle Dämme.

Die ruhige Erzählweise vermittelt ein fast schon komplettes Bild Fidel Castros. Schon früh musste er lernen sich durchzusetzen. Gegen Mitschüler, die den Ungetauften hänselten, gegen Lehrer, die ihn körperlich malträtierten. Schließlich gegen alle Widerständler, die seine Ideen nicht guthießen.

Das Ergebnis ist bekannt: Wenn Fidel redete, standen die Zuhörer stundenlang still. Solange er lebt, wird Kuba nicht fallen, heißt es. Fidel Castro ist eine Ikone, über die man nur sehr wenig weiß. Aber viel spekuliert. Und die so genannten weichen Fakten (die Anzahl der Ehen und Kinder sind ein willkommenes Fressen für die Klatschreporter) sagen nur wenig über den wahren Charakter des Staatsmannes aus.

Fünf Stunden, um einen Menschen zu beschreiben – reicht das? Nein, aber es reicht vollkommen aus, um aus einem vermeintlichen Phantom einen fleischgewordenen Revolutionär zu skizzieren. Denn sobald – und davon muss man ausgehen – Fidel Castro einmal nicht mehr ist, werden sich die Geier der Geschichtsschreibung auf seinen Kadaver setzen und ihn zerfleischen bis nur noch spärliche Reste vorhanden sein werden. Warum also nicht jetzt schon mal anfangen mit wohlklingenden und bekannten Stimmen deren Siegesgeschrei zu mildern?