Archiv der Kategorie: Leben im Fluss

Der Mann mit dem Saxofon

Hannahs Leben war bis eben ein Desaster. Da kam der Auslandsjob – sie ist Schauspielerin – wie gerufen. Einfach bloß weg, sich ablenken, sich mit anderen Dingen beschäftigen … eine neue Liebe. Doch auch das ist nun vorbei. Sie liest in ihrem Tagebuch, das sie eigentlich gar nicht schreiben wollte. Und sie liest, obwohl ihr alles noch so präsent ist, dass auch die neue Liebe passé ist. Tot, der Geliebte, die Klappe auf der Bühne war schuld. Peng!, sie fiel zu – der Geliebte im Jenseits. Nicht nur auf der Bühne. Ihre Schuld? Ihre Schuld! Hannah findet keine andere Lösung, so sehr sie auch sucht. Sie ist schuld am Tod ihres Geliebten.

Doch das Leben hat die Angewohnheit fortzuschreiten. Beim Casting für ein neues Projekt fällt sie auf. Lviv, Lwow, Lemberg ist der temporäre Lebensmittelpunkt. Und auch hier in der Fremde gibt es Vertrautes. Vertraut die Fremdheit des Hotelzimmers. Alles so clean, so stringent, alles an seinem Platz, aber ohne Liebe, ohne persönliche Note. Fremd ist die Stadt, fremd das Gefühl wie ein Star behandelt zu werden. Hannah bemerkt beide Seiten der Medaille, doch ist wenig beeindruckt.

Sie schlendert durch den Park und trifft ihr Schicksal in Person von Aaron, dem Saxofonspieler. Seine wachen Augen, seine behändes Spiel, seine Fähigkeit im richtigen Moment das richtige Zitat zu bringen, verblüfft sie.

So lebensbejahend Aaron auch ist, so betrübt ist sein Herz. Und Hannah versteht ihn besser als je ein Mensch zuvor. Wenn das Wort Seelenverwandtschaft je zutraf, dann auf Aaron und Hannah…

Sibylle Schleicher schickt den Leser auf eine Reise durch das unbekannte Lviv/Lemberg. Das Schicksal der beiden endet in einem Labyrinth der Gefühle, aus dem sie nur schwer wieder herauskommen. Gewolltes Exil oder Schicksalsergebenheit? Jedes Umblättern ist Nervenkitzel par excellence. Wie in einem düsteren Krimi noir schreitet man mit den Hannah und Aaron auf den Abgrund zu, der unausweichlich scheinen mag. Die Suche nach dem Grabe des Vaters und die Suche nach Befreiung führen auf ein und denselben Weg.

Zwischendrin, kaum merklich, verwandelt sich der Roman in einen Reiseführer. Das einstige Lemberg erwacht in den Worten von Sibylle Schleicher zum Leben. Die Spaziergänge, die Hannah unternimmt, sind kleine Ausflüge durch eine Stadt, die ihrer Blüte hinterherhinkt und der Pracht nachweint. Doch die Spuren der Vergangenheit sind weder bei Hannah noch bei Aaron noch bei der Stadt komplett verschwunden. Wer ein wenig an ihnen kratz, wird belohnt werden.

Am Tiefpunkt genial

Ach Mensch, Paul! Du wusstest es doch! Als Stefanie so vertraut mit Markus war. Das Klingeln im Ohr?! Du hast es doch gehört. Nun ist sie weg, die Stefanie. Jetzt gibt es dafür Markus und Stefanie. Mensch Paul! Kippen, Bücher und Musik sind doch nicht alles.

Man möchte Paul anschreien, ihn wachrütteln. Ein bisschen Selbstmitleid sei ihm zugestanden, ihm dem Buchhändler, der so sehr an Zigaretten und Musik hängt. Und bis vor Kurzem hing er auch noch an Stefanie. Sie, das Modepüppchen, die nächtelang die Clubs unsicher machte, sehr, zu auf ihr Äußeres achtete und dieses hegte und pflegte. Stundenlang. Und Paul, der Mode zwar buchstabieren kann, aber ansonsten damit nichts anfangen kann. Warum hat Bernhard diesen Markus auch angeschleppt?!

Hass empfindet Paul nicht. Mit Klarissa hingegen spricht er sich aus. Seine Ex. Sie kennt ihn und mag ihn und fühlt sich immer noch ein wenig für ihn verantwortlich. Aber vor allem macht sie ihm Mut. Die Trennung war gut für ihn. Den Eigenbrödler. Und dann wieder Bernhard. Lass uns treffen. Alle zusammen. Auch Markus? Ja. Der Soundtrack des Lebens hält für den Musikliebhaber Paul aber auch immer wieder eine B-Seite parat. Kein stimmungsvoll-melancholischer B.B. King, keine immer passenden Stones, kein beruhigender Miles Davis.

Und wie im richtigen Muskleben enthält die B-Seite eine echte Rarität. Markus und Paul können sich in die Augen schauen, miteinander reden und sich sogar die Hand geben. The kids are alright oder doch Sympathy fort he devil?

Wer nun meint, dass mit Paul wieder alles in Ordnung ist, irrt. Mit Paul war schon immer alles in Ordnung. Aus falschem Pflichtgefühl heraus bildet er sich ein, dass Schicksalsschläge unbedingt mit tiefer Trauer, Selbstzweifel und vielleicht sogar Hass einhergehen müssen. Doch Paul hat seine Bücher, seine Kippen und seine Musiksammlung. Und wenn ihm danach ist, haut er sich einfach aufs Sofa. Nichts tun, den Herrgott einen liebe Mann sein lassen. Er verliert seinen Job und erkennt, dass Markus auch bloß ein Aufschneider ist, der gern andere in seine Machenschaften zieht. Im ersten Moment keine sonderlich schönen Ereignisse. Dennoch: Paul kann zufrieden sein. Denn schlussendlich ist da noch etwas. Das Leben!

Karoline Cvancara zeichnet mit Paul einen Lebemann, den man nicht auf Anhieb dieses Attribut verleihen würde. Er ist wie eine Katze, landet immer wieder auf den Füßen. Die Abgründe, die sich vor ihm auftun, kennt jeder. Man kann sich verkriechen, die Decke über den Kopf ziehen, aber das zögert die Lösung des Problems nur hinaus. Man kann sich bewusst Hilfe suchen, aber dann muss man alles noch einmal aufrollen, ob’s hilft, weiß man vorher nicht. Oder man lässt alles erst einmal sacken und blickt nach vorn. So wie Paul.

Ein Lied für Dulce

Ein Lied für die Süße schreiben – das kann nur zum Erfolg führen. Uns klingen immer noch „Suzanne“ von Leonard Cohen oder die unzähligen Hits von Prince, die er für seine Herzdamen schrieb, in den Ohren. Diese Lieder wurden schon geschrieben, verzauberten Abermillionen und die Angebeteten. Das Lied für Dulce muss noch geschrieben werden. Sie muss es bekommen, es hören, dann wird wieder alles gut. Und sie kehrt zurück…

Zurück in die Band Super Mama Djombo, deren Stimme sie war. Die Stimme, die schlagartig das Wohl der Musiker bestimmte, ihnen Erfolg bescherte. Aber auch die Dulce, die niemals einem allein gehörte. Man musste sie teilen, mit den Fans, den Verehrern. Mit Dulce war alles einfacher. Damals.

Jetzt ist sie tot und Guinea-Bissau steht kurz vor der entscheidenden Wahl des Präsidenten. Das Militär hat mehr als nur die Finger im Spiel. Die Schergen der Machthaber sorgen schon dafür, dass der Richtige gewinnen wird. Und alles so bleibt wie es ist. Ein Putsch liegt in der Luft, ist für alle spürbar angekündigt. Couto, die einzige fiktionale Figur ohne realen Hintergrund versucht Dulce, die es wirklich gab, nur in abgewandelter Form, ein Denkmal zu setzen. Super Mama Djombo sollen noch einmal spielen, für Dulce. Sie, die die Band verließ und die einen Putschisten, einen General heiratete. Und dafür benötigt er die Hilfe der Band und ein neues Lied.

Sylvain Prudhomme lässt Couto durch die Straßen der Erinnerung laufen. Leise zupft die Erinnerung die Saiten der Vergangenheit. Zuerst nur einzelne Töne, dann klangvolle Akkorde bis eine Melodie der Sehnsucht entsteht. Im Rhythmus der Schritte, mal dumpf, mal glockenklar, geht der Leser auf Tour mit Couto, mit Dulce, der Geschichte und biegt schlussendlich ein auf den Pfad der Hoffnung, dessen Ende so klar am Horizont erscheint, dass man ihn schon gar nicht mehr wahrhaben will.

Die Flagge des westafrikanischen Landes hat drei Farben und einen schwarzen Stern. Dieses Buch hat unzählige Sterne und noch mehr Farben, die der Autor allesamt zum Leuchten bringt: Das Rot der Erde, das Gold der Fassaden, das Grün der Natur … Sie alle strahlen mit jeder Zeile dieses Romans kräftiger als je zuvor, wenn Couto durch die Häuserschluchten streift und sein Land sich verändern sieht. Couto schafft, was er sich vorgenommen hat. Das Konzert findet statt. Doch es wird nicht so enden, wie er und seine Freunde es sich ausgemalt hatten…

Lesetrunken torkelt man schnurgeradeaus durch eine Geschichte, die zwar weit weg angesiedelt ist und doch so nah für Herzklopfen sorgt. Immer wieder sorgen afrikanische Sänger und Bands für Furore. Youssou N’Dour aus Senegal (nördlicher Nachbar von Guinea-Bissau), Mori Kante aus Guinea (südlicher und östlicher Nachbar von Guinea-Bissau) oder auch Papa Wemba aus Kongo, der im Frühjahr 2016 verstarb. Nur einem kleinen Kreis sind sie außerhalb ihres Landes, ihres Kontinents (dauerhaft) bekannt. Dulce Neves gibt es, sie singt immer noch. Sie ist die Vorlage der Dulce im Roman. Sylvain Prudhomme verleiht ihr Attribute, die sie zu einer Romanheldin reifen lassen, die sie real aber nie hatte. Der Sommer wird dieses Jahr, mit diesem Roman, schon sehr früh eingeläutet.

Thomas & Mary

Ein Roman für die ganze Familie. Für die zerbrechende Familie? Für die heile Familie? Für Sie. Für ihn. Tim Parks schickt seine Leser auf einen Seelenstriptease, der von außen gesehen und gesteuert wird. Denn Thomas und Mary erkennen viel zu spät, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben. Und wenn doch, dann sind es Strohfeuer, die eher einer Reminiszenz an die „gute, alte Zeit“ gleichen.

Scheidungsromane sind meistens für Frauen geschrieben – Achtung Vorurteil! Männer kommen in der Regel ganz schlecht weg. Und sind einmal die Frauen schuld, dann auch zurecht. Tim Parks lässt von Anfang an keinen Zweifel aufkommen, dass hier zwei Schuldige auf der literarischen Anklagebank sitzen: Jeder hat schon mal in seiner Firma einen Vorgesetzten gehabt, der allzu gern mit dem Handrücken der einen Hand permanent und lautstark in die hohle Handinnenfläche schlagend die – meist richtige – Aufforderung hinausposaunt: „Kommunikation!“. Meist sind es die, die immer davon ausgehen, dass alle wissen sollten, was zu tun und zu lassen ist. Da kann man sich als Chef hinterher viel besser aufregen, wenn es mal nicht so ist… Thomas und Mary sind diejenigen, die wissen sollten, was geht und was nicht geht. Kleine Aufmerksamkeiten für den Anderen gibt es schon lange nicht mehr. Haus, Kinder (je eines von jedem Geschlecht), Hund, Job. Alles da, was man braucht um zufrieden zu sein. Materiell mag das stimmen. Doch eine Ehe, ein Zusammenleben fußt doch nicht auf materiellen Dingen!

Wenn dann allerdings bei der Arbeit auch noch alles aus dem Ruder zu laufen scheint, ist Ärger im Privaten vorprogrammiert. Besonders, wenn Kollegen einem richtig ans Herz bzw. in Thomas‘ Fall an die Hose gewachsen sind. Er hat eine Affäre. Ist er doch an allem schuld?

Das unaufgeregte Sezieren des langsamen Zerfalls von Thomas & Mary in Thomas und Mary ist eine Kunst, die Tim Parks vortrefflich beherrscht. Man kann keinem der beiden einen echten Vorwurf machen. Mit geschlossenen Augen entfliehen beide gleichermaßen der Realität, nicht um ins Unglück zu stürzen, sondern festzustellen, dass in der Langsamkeit eine gewisse Art Lösung ihrer Probleme steckt. Mary wie Thomas handeln nicht übereilt. Weder Lügenberge noch entwaffnende Ehrlichkeit verletzen den jeweils anderen. Ihre Kinder Mark und Sally haben schon längst vor ihren Erzeugern bemerkt, dass die Ehe nur noch auf dem Papier besteht. Doch es ist nicht ihre Aufgabe die Brüche zu kitten. Das sollen die Eltern mal selber machen! Sofern sie es denn wollen…

Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers

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Ben Jackson ist ein exzellenter Kenner der amerikanischen Literatur der 40er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts). Einige Schriftsteller konnte er stolz zu seinen Freunden zählen. Wie zum Beispiel Carson McCullers. Und nun erzählt er wie Carson McCullers wurde, was sie war: Ein Wunderkind!

Der Anlass, der in bewegt seine Gedanken niederzuschreiben, ist traurig. Denn Carson McCullers hat nur wenige Tage zu vor ihre Augen für immer geschlossen. Und Ben Jackson soll nun ein paar Worte auf der Beerdigung sagen. Es fällt ihm schwer. Und so zieht er sich immer mehr in die Vergangenheit der viel zu früh verstorbenen Carson McCullers zurück:
Dass sie einmal ein Wunderkind zur Welt bringen würde, war Marguerite Waters Smith schon immer klar. Deshalb sollte der Stammhalter auch den Namen Caruso bekommen. Caruso Smith – der Hang zur absolut unpassenden (weil unmelodischen, und frei von jedwedem sozialen Zusammenhang) Namenswahl ist also keine Erfindung der Neuzeit. Doch dann kam es anders – aus Caruso wurde Lula Carson, später einfach nur Carson. Als Carson noch Lula Carson war, setzte sie sich ans Klavier der Eltern. Freunde hatte die Kleine keine, zu schäbig, nicht gut für sie, unpassend für ein Wunderkind. Kinderliebe kann schon seltsame Blüten treiben… Und sie klimperte nicht einfach nur so herum, sie spielte Melodien, Lieder. Ein echtes Wunderkind eben! Ihre Mutter sollte recht behalten.

Doch auch Wunderkinder haben ihren eigenen Kopf. Schriftstellerin will sie werden. Auch als an der renommierten Juilliard School of Music in New York angenommen wird, verflüchtigt sich dieser Wunsch nicht. Sie schreibt schon als Teenager Geschichten. Und als sie das Schulgeld verliert, sich aber nicht getraut es zuzugeben, muss sie sich – allein in New York – irgendwie über Wasser halten. Sie schreibt, bekommt sogar Geld dafür und landet mit „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ihren ersten Erfolg.

Aus Lula Carson Smith, der Wunderkind von Gottes Gnaden, wird Carson McCullers, die bedeutendste Autorin Amerikas, wenn es nach Tennessee Williams geht. Doch um ihre Gesundheit ist es nicht gerade gut bestellt. Die Rückschläge gesundheitlicher Art werden immer häufiger. Die Erfolge auf schriftstellerischer Ebene lassen nicht lange auf sich warten. „Spiegelbild im goldnen Auge“, „Die Ballade vom traurigen Café“ knüpfen nahtlos an „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ an.

Und Reeves, ihr Mann, Namensgeber? Auch er wollte Schriftsteller werden. Mit ihrer ersten Gage kaufte er sich von der Army los. Sie war er ehrgeizig und erfolgreich, er nur ehrgeizig. Reeves und Carson waren füreinander gemacht, doch schafften es nicht im eigenen Glück zu baden…

Das ist alles nur … fiktiv. Kein Ben Jackson! Leider! Doch Barbara Landes nimmt man jedes Wort in ihrer Romanbiographie ab. Jedes Wort, jedes Komma, jedes Adjektiv sitzt und pulsiert. Als ob das einstige Wunderkind Carson McCullers selbst die Feder gehalten hätte. Wenn Romane wie diese Sinnbild für den Spätsommer sind, lassen sie den noch so heißesten Sommer wie eine laue Brise erscheinen.

Sich an eine Biographie zu wagen, die das Objekt der Begierde selbst schon verfasst hat, grenzt an eine Herkulesaufgabe. Von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn es sich um jemand wie Carson McCullers handelt. Die Leichtigkeit, mit der Barbara Landes der Schriftstellerin gegenübertritt (oder sollte man sagen „neben ihr herschreitet“?) überrascht. 2017 jährt sich Carson McCullers Geburtstag zum hundertsten Mal. Wer jetzt noch vorhat die Schriftstellerin mit einem Buch zu ehren, muss mehr als einen Kniff im petto haben. Ben Jackson, Barbara Landes und Carson McCullers, zwei real, einer erfunden, sind das trio infernale des literarischen Herbstes 2016.

Jane Austens Ratgeber für moderne Lebenskrisen

Jane Austens Ratgeber für moderne Lebenskrisen

Hätte er/sie mal jemand gefragt, der sich damit auskennt! Die Zeitungen und Zeitschriften sind voll mit Ratschlägen und vor allem Ratgebern zu allem möglichen Unrat. „Modellieren mit Kartoffelsalat“, „50 Kilo abnehmen im Schlaf“, „Wie kriege ich ihn / sie rum in 90 Sekunden“. Alles Quatsch und so nötig wie ein Geschwür. Hilft eh nicht und macht nur dumm. Doch der Ansatz sich zu belesen, um Fragen auf das eine oderandere Problem zu erhalten, ist nicht verkehrt. Es ist nur die falsche Lektüre!

Wer Jane Austens Werke abschätzig als Mädchen- oder Frauenliteratur bezeichnet, tut nicht nur der Autorin, sondern vielen Lesern unrecht, die regelrecht in die Bücher vernarrt sind. Nur ein echter Kerl liest Jane Austen! Man wird sicher kein Frauenversteher, wenn man sich Emmas Schicksal widmet. Doch die Lektüre öffnet den Weg zu so manchem Herzen…

Natürlich hatte Jane Austen nie im Sinn Ratgeber für den Alltag zu schreiben. Das war eher ein Zufallsprodukt, dennoch kann so manche Zeile als Hilfestellung angesehen werden. Man muss nur die Gegebenheiten verändern. Schon das Titelbild weist vielsagend den Weg: Ein moderne Frau des frühen 19. Jahrhunderts mit einem Tablet. Nein, nicht Tablett, auf dem für den Gatten eine Tasse Tee steht. Sondern ein Tablet-Computer. Selbst Miss Austen konnte diese Entwicklung nicht voraussehen.

Rebecca Smith hat sich als „writer in residence“ in „Jane Austen’s House Museum“ intensiv mit der Schriftstellerin beschäftigt, ihre Schriften studiert und auf Brauchbarkeit in der Gegenwart untersucht. Die Parallelen sind frappierend! So modern die Bücher damals waren, so unverhohlen aktuell sind sie bis heute. Stress mit den Eltern oder dem Angebeteten? Das kann auch die Zeit nicht heilen! Jane Austen ist auch zweihundert Jahre nach ihrem Ableben 1817 (Achtung, Jubiläum im Jahr 2017!) immer noch ein gefragte Ratgeberin.

Rebecca Smith ist regelrecht in Jane Austen vernarrt. Kein Wunder, denn schließlich ist sie die Ururururgroßnichte (viermal „ur“) der viel zu früh gestorbenen Schriftstellerin. Liebe und Beziehung, Freunde und Familie, Arbeit und Karriere, Mode und Stil, Heim und Garten sowie Freizeit und Reisen – in diese Kapitel ist das Buch unterteilt. Eigentlich das ganze Leben! Manchmal muss man schmunzeln, oft jedoch nickt man freudig den beiden Autorinnen zu. Fast zwei Jahrhunderte trennen Austen und Smith. Zwei Jahrhunderte, in denen sich die Welt gravierend verändert hat. Umso erfreulicher ist es, dass es so manches gibt, dass sie hartnäckig weigert zu verschwinden. Und dass es immer noch Interesse gibt diese Probleme auf „altmodische Weise“ zu lösen.

Mit Fug und Recht kann man nach der Lektüre von sich behaupten, dass man ab sofort mit Stolz und vielleicht ohne Vorurteil als Emma, oder wie auch immer man nun heißen mag, durch Mansfield Park oder gleich durch das gesamte Leben schreiten kann. Die gute Jane Austen wusste vielleicht nicht alles, aber bei Weitem oft einiges besser als die heutigen Pseudo-Lebensberater, die ihre Zeile nur allzu gern in den bunten Blättern wiederfinden wollen.

Doc Alex‘ wunderbare Welt der Zähne

Doc Alex wunderbare Welt der Zähne

Zähne sind wie das Wetter: Jeder kann was dazu sagen. Meist beschränkt sich die Konversation eher auf ein „Können wir das Thema wechseln?“, dennoch hat jeder eine besondere Beziehung zu den Nahrungszerteilern in seinem Mund.

Doc Alex, der eigentlich Dr. Alexander Lehnartz heißt und – was Wunder – im wahren Leben Zahnarzt ist – legt ab den ersten Seiten so richtig los. Siebzig Kilogramm pro Quadratmillimeter (!) kann ein Zahn aushalten. Das ist das Härteste, was der menschliche Körper hervorbringen kann! Wenn das nächste Mal eine Ausfallerscheinung Gestalt annimmt, kann man ja mal die Oberfläche messen und beim Discounter um die Ecke nachfragen, ob der nächste Lieferant mal mit seinem LKW drüber fahren kann. Der Zahn wird gewinnen!

Apropos Nahrung. Der Impressionist Auguste Renoir sagte einmal, dass die besten Beefsteaks kommen, wenn man keine Zähne mehr hat… So viel zum Thema Zahnpflege und LKW-Ladungen voller Nahrung. Überhaupt ist dieses Buch ein Füllhorn an Wissen, dem sich die meisten hartnäckig widersetzen. Denn ein Zahnarztbesuch taugt auch zum Pausenthema unter Kollegen. Tage- manchmal sogar wochenlang rennen Freunde, Bekannte, Kollegen mit dicker Backe rum. Jammern, wimmern vor sich hin. Wer noch kraftvoll in einen Apfel beißt, dem fällt es leicht zu sagen „Geh doch zum Doc!“. Wer den Schmerz hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Und dann? Aua, autsch, nervöses Hinwegducken vor den Gerätschaften des Fleischermeisters. Aber, wenn der Schmerz nachlässt, ist der Zahnarzt der liebste Freund. Am besten vorher noch eine Narkose. Selbst Spritzenphobiker geraten da in Verzückung.

Doc Alex schafft es mit einfachen Worten den Leser für das Thema Dentalhygiene der Beißerchen zu begeistern. Sie sind ein wahres Wunderwerk im System menschlicher Körper. Sie sind nicht einfach nur da, um Fleisch, Gemüse und Sättigungsbeilagen zu zerkleinern. Sie sind wichtiger Bestandteil der Maschinerie Mensch. So stehen beispielsweise die Schneidezähne – oben wie unten – im direkten Zusammenhang mit Blase und Nieren, aber auch den Geschlechtsorganen. Wer gern mal einen über den Durst trinkt, sollte besonderes Augenmerk auf die unteren Backenzähne legen. Was nicht heißen soll, dass übergründliches Putzen selbiger einen erhöhten Alkoholkonsum legitimiert.

Es ist eine wahre Freude in diesem Buch zu schmökern. All die bunten Prospekte in den Praxen der mehr oder (meist) weniger geliebten Dentalhandwerker sind wichtig, doch dieses Buch ist das Vererbstück des Dentalwissens. Nicht nur ein Aha-Erlebnis pro Kapitel, sondern gleich mehrere Augen-Auf-Fakten pro Seite! Da bekommt man richtig Lust zum Zahnarzt zu gehen…

Zum Schluss noch eine gute Nachricht von Doc Alex: Es gibt immer weniger Menschen, bei denen sich die Weisheitszähne ihren Weg schmerzvoll ans Licht bahnen. Sonnige Aussichten für alle Angsthasen!

Der Triumph der Geraldine Gull

Der Triumph der Geraldine Gull

Geraldine Gull ist keine Frau, in die man sich auf den ersten Blick verliebt. Es sei denn, sie will es so. Und macht dies eindrücklich klar. Großgewachsen, grobschlächtig trifft es am ehesten, wenn man sie beschreiben sollte. Willa Coyle verbringt hier einige Zeit, um den Kindern des Dorfes am Ende der Welt, in der Einöde Kanadas Zeichenunterricht zu geben. Ein Ereignis. Eine Fremde kommt hier her. Auch Geraldine kommt, um den Neuankömmling gebührend zu begrüßen. Klatsch, Bäng. Und schon hat Willa Coyle eine rosige Gesichtsfarbe. Geraldine Gull hat ihr ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund eine gescheuert. Netter Empfang! Die restlichen paar Dutzend Einwohner sind da nicht so feindselig gestrickt. Sie sind neugierig und freundlich.

Aber auch rückschrittlich. Willa kommt in der Gemeinde unter und schon wird ihr geraten keine kurzen Hosen zu tragen. Das verderbe die Jugend. In Briefen an ihre Schwester klagt sie ihr Leid. Ihre Arbeit – das Zeichnen mit den Kindern – wird gewürdigt. Man achtet ihr Talent das Beste aus den Kindern herauszuholen.

Auch Geraldine begegnet einem Maler. Der ist betrunken und stolpert in diesem Zustand durch die Bars der Stadt. Hier ist Geraldine zuhause. Sie ist Herren, die es sich leisten können, zu Diensten. Die paar Dollar, die sie damit verdient, reichen hinten und vorn nicht. So muss sie das Nötigste stehlen. Das hat sie schon immer so gemacht. Auch deswegen wurde ihr ihr Sohn Alexander weggenommen. Der junge Mann, der grölend sein Talent als Maler anpreist, ist Alexander, ihr Sohn. Nach all den Jahren, in denen sie ihn vergebens suchte, sich mit Behörden und ihren ausführenden Organen anlegte, ihnen drohte, hat sie Alexander wiedergefunden.

Die Freude ihn wiederzusehen, sofern es eine ist, währt nur kurz. Denn Alexander stirbt. Jedoch nicht ohne ihr seine Bilder zu hinterlassen. Im Rausch pries er sich und  sein Werk immer derart an, dass man ihm einfach glauben musste,, dass sie einmal viel wert sein würden. Und ihn diesem Glauben versteckt Geraldine Gull sein Vermächtnis…

Niska, der Ort, in dem Geraldine zuhause ist, ist kein Ort zum Leben für die derbe Gestalt der Geraldine. Jedes Jahr wird Niska überschwemmt. Jedes Jahr werden die Bewohner zum Wegzug überredet. Jedes Jahr sagen sie zu und … bleiben doch. Für Menschen wie Willa ist die Exotik dieses Rhythmus‘ schnell verflogen. Selbst Geraldine ist hier fremd. Die Welt nimmt sie als Fremdkörper wahr. Allerdings tut sie nichts, um das zu ändern. Vielmehr befeuert sie die Vorurteile. Im Laufe der Buches bekommt Geraldine Konturen, die es dem Leser erlauben den komplexen, verschlossenen Charakter Geraldines zu verstehen und stellenweise sympathisch zu finden. Der Querkopf passt sich an, jedoch nicht ohne den eigenen Kopf durchzusetzen.

Das Haus im Dunkel

Das Haus im Dunkel

Es braucht seine Zeit bis man sich im Dunkeln zurechtfindet. Langsam tastet man sich voran. Vorbei an im Wind wehenden Vorhängen, die wie Buchseiten einem um die Nase wehen. Hindurch die zahllosen Zimmer, die wie Kapitel das Ganze ergeben. Mittendrin im Stoff, der sich nach und nach dem Leser entfaltet.

Ein Autor lebt in diesem großen, dunklen Haus. Mit Mutter und Sklavin. Die Beziehungen untereinander sind nüchtern. Miriam, die Sklavin spricht nicht. Sie ist treue Dienerin und Abbild der realen Phantasie. Die Mutter existiert nur noch als gebährende Hülle der Existenz des Erzählenden. Einzig allein die Katzen, die ihm überall hin folgen, die die Mutter als Schlafplatz nutzen, sind dem Leben zugetan. Sein Verleger ist nun auch tot. Nach jahrelanger Haft wegen Ablehnung eines jungen Autors. Das Haus – ist es real? Oder ist es das steingewordene Hirngespinst einer Phantasie?

José Luís Peixoto lässt Leser und Hauptfigur im Titel des Buches sitzen. Was ist echt, was schwebt zwischen den Sphären? Erst ein längst verloren geglaubter Freund, Anker der eigenen Existenz bringt wieder Schwung in die weiten, leeren Flure des Hauses. Prinz Calilatri verabschiedete sich einst mit den Worten die Welt zu erobern. Nun ist er zurück vom Feldzug der Sehnsucht. Hat alles gesehen, alles erlebt, will nicht mehr in fremden Gefilden wandeln. Die Invasion beginnt. Wirft alles bisher Bewährte, lethargisch Erduldete über den Haufen der leeren Blätter und wohl geformten Worte.

Flucht oder Verharren? Was ist richtig, was ist falsch? Die eingefahren, ausgetretenen Pfade des Lebens wirbeln Staub auf. Ob sich hier neues Leben ansiedeln kann? Oder wird das Haus dem Erdboden gleichgemacht?

Schon während des Lesens häufen sich die Fragen über „Das Haus im Dunkel“.  Schnell huscht man über so manche Zeile hinweg, um dann doch noch einmal zurückzublättern, um ganz sicher zu gehen alles auch wirklich richtig eingeordnet zu haben. Dieses Buch liest man unfreiwillig mehrmals. Die Rituale des Stillstands sind die Säulen der Beständigkeit im gesicherten Mauern. Wer sich jedoch nicht bewegt, fällt automatisch dem Rückschritt anheim. Für einen Autor der sichere Tod. José Luís Peixotos Held muss sich – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben – einer echten Herausforderung stellen. Ein literarischer Hochgenuss für alle Buchstabenfetischisten, die das Wort nur in bedeutungsvollen Sätzen akzeptieren. Wie ein Nachschlag beim Lieblingsessen serviert der Autor dem Leser ein trauriges Szenario, das nach und nach seinen Schrecken verliert.

Die Fremde im Spiegel

Die Fremde im Spiegel

Es ist dunkel in dem großen Haus. In dem Haus, in dem Hanan wohnt, zusammen mit ihrem Mann und der Dienerin Alia. Dunkel wie die Nacht nur sein kann. Ein Lichtstrahl durchschneidet das Nachtschwarz scharf wie ein Schwerthieb. Leises Wispern. Ohne das Licht kaum wahrnehmbar. Hanan folgt dem Licht. Die offene Tür zum Gemach ihres Gatten steht offen. Nur ein ganz klein wenig, doch genug um den Korridor ausreichend zu erhellen. Da liegt, erschöpft, mit einem Gesicht, das sie so noch nie gesehen hat. Aber sie hat eh nie auf sein Gesicht geachtet, wenn sie sich vereinigten. Um ihn geschlungen liegt Alia. Glücklich sieht anders aus. Doch sie ist da. Das reicht.

Das reicht! Hanan schmeißt Alia aus dem Haus. Schickt sie fort. Ihn den namenlosen, treulosen Gatten straft sie mit Nichtachtung – ihm ist es gleich.. Er wird es überleben. Alia aber? Darum sorgt sich Hanan, doch noch wiegt der Verrat schwerer. Im Spiegel trifft sie eine Frau, die ihr gar nicht ähnlich sieht. Eine Frau, die ihr so fremd ist wie die gerade erlebte Situation. Alia, die schöne Dienerin, die mit ihrer Herrin mehr verbindet als nur das bloße Angestelltenverhältnis.

Das große Haus scheint auf einmal noch größer, kälter, unnahbarer, fremd. Und immer wieder die Frau im Spiegel. Und es bietet Raum zur Erinnerung. Hanan erinnert sich zurück an den Tag als Alia ihr angeboten wurde. Das kleine Mädchen, das völlig regungslos an der Hand des „Barbarenvaters“ wie sie ihn nannte für ein Bündel Geld Hanan und ihrem Mann angeboten wurde. Alia war froh endlich dem elterlichen Heim zu entkommen. Hier gab es weder Kindheit noch Freude. Gewalt und Tyrannei bestimmten ihr bisheriges Leben. Ihre Schwester verstarb noch bevor Alia geboren wurde. Der Vater war schuld. Und Alia bekam bei ihrer Geburt den Name der Schwester. Eine schwere Bürde.

Hanan ist in Gedanken versunken und stellt fest, dass Alia und sie selbst etliche Parallelen aufweisen. Auch Hanan war froh dem Martyrium des Elternhauses entfliehen zu können. Ihre Heirat war Mittel zum Zweck. Wie in so vielen syrischen Familien. Und Alia war ihr immer eine treue Gefährtin. Oder doch nicht? War Alia nicht still und heimlich zur Herrscherin über Haus und Hof geworden? Hanan befreit sich nach und nach aus ihrem Kokon, den sie als ihr Leben angesehen hat…

Samar Yazbek reflektiert in „Die Fremde im Spiegel“ das Leben in Syrien vor dem unendlich scheinenden Krieg. Das Schicksal von Hanan und Alia steht exemplarisch für die Traditionen in einem Land, das die meisten seit Jahrzehnten nur als Kriegsschauplatz wahrnehmen. Alia kam als Dienerin in den Haushalt der Familie, die zur Elite des Landes gehört. Hanan stieg durch die Heirat mit dem alten Krokodil, wie sie ihren Mann nur noch abschätzig nennt, in die Oberschicht auf. Die gibt sich in ihrer Langeweile nur mit sich selbst in verrückten Spielchen ab. Das ist kein Leben für Hanan. Und so macht sie sich auf die Suche nach Alia, einem Leben, einer Zukunft.